«Zwei meiner Verwandten starben in Höhe der heutigen Stadt Bonn, ein fünfzigjähriger Mann und eine Frau um die zwanzig. Ihre Begleiter hoben ein Grab aus, betteten sie dicht nebeneinander und bestreuten sie reichlich mit rotem Farbpulver.» So schreibt Karin Bojs in ihrem Buch «Meine europäische Familie – die ersten 54'000 Jahre».
Dabei geht es nicht um Verwandte, an deren Beerdigung sie teilnehmen konnte. Die Knochen ihrer Verwandten sind 14'500 Jahre alt, stammen also aus der Steinzeit: aus einer Epoche, in der Europa noch sehr dünn besiedelt war, die Eiszeit noch nicht ganz vorbei, die Menschen aber schon ordentlich in Bewegung, um sich dem neuen, wärmeren Klima anzupassen.
Verräterisches Erbgut
Dass Karin Bojs von «Verwandten» spricht, ist kein Witz. Sie kann ihre Verwandtschaft per Gentest nachweisen. Und zwar indem sie das Erbgut ihrer Mitochondrien mit dem aus Knochenfunden abgleicht.
Mitochondrien sind die Energiezentren unserer Zellen. Sie werden nur über die Mutter vererbt und tragen ein eigenes Erbgut in sich. In diesem Erbgut gibt es Muster, die sich über die Jahrtausende hinweg nur wenig verändert haben.
Wenn Karin Bojs ein Muster hat, das auch in den Knochen einer steinzeitlichen Jägerin steckt, oder in den Toten aus dem Grab bei Bonn, dann heisst das, dass diese Menschen mit ihr verwandt sind, wenn auch ziemlich entfernt.
Persönliche Menschheitsgeschichte
Für ihr Buch geht Bojs noch viel weiter zurück als die 14'500 Jahre: Zu den Menschen, die vor 54'000 Jahren in Palästina lebten und sich mit Neandertalern kreuzten.
Zu den Steinzeitmenschen, die die ersten Kunstwerke schafften – geschnitzte Mammuts aus Elfenbein zum Beispiel. Und weiter durch die Jahrtausende, bis zu denen, die im heutigen Syrien die Landwirtschaft erfanden.
Ein Fund, und alles ist anders
Als erfahrene Wissenschaftsjournalistin weiss Karin Bojs, wo sie nachfragen muss, um auf die Spuren ihrer eigenen Vorfahren zu kommen. Überall, wo sie diese findet, bündelt sie, was die Forschung heute weiss. Wann immer möglich, fährt sie hin an die Fundorte und erzählt, was sie sieht.
Dabei beschreibt sie nicht nur, was die Forscher herausfinden, sondern auch wie. Sie befragt die Forscher nicht nur nach ihren Ergebnissen, sondern zeigt auch auf, warum sie tun, was sie tun.
Bojs macht klar: Jederzeit kann der nächste Fund alle Gedankengerüste wieder zum Einsturz bringen.
Persönlicher Start – und ein Glücksfall
Am Anfang des Buchprojekts steht für Karin Bojs der Tod ihrer Mutter. Sie spürt den Wunsch, mehr über sich und ihre Vorfahren zu erfahren.
Dass sie Wissenschaftsjournalistin ist und deshalb nicht dort haltmacht, wo jeder normale Mensch haltmachen würde – beim Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Grossvater vielleicht – ist ein Glücksfall.