Unsere Stimmen sagen viel aus über unsere Gesellschaft. Japanerinnen sprechen anders als Norwegerinnen, ein Manager klingt nicht gleich wie ein Verkäufer. Das zeigt der Stimmforscher Michael Fuchs mit einer Studie.
SRF: Sie konnten im Rahmen eines grossen Forschungsprojektes am Uniklinikum Leipzig die Stimmen von 2'500 Erwachsenen untersuchen. Was war die erstaunlichste Erkenntnis?
Michael Fuchs: Überrascht hat uns, dass die Frauenstimmen deutlich tiefer sind als noch vor 50 Jahren. Der Abstand zwischen Frauen- und Männerstimmen hat sich halbiert.
Was ist der Grund dafür?
Biologische Faktoren konnten wir ausschliessen. Unsere Diagnose ist deshalb: der gesellschaftliche Wandel.
Frauen übernehmen heute eine andere Rolle in der Gesellschaft, stehen in Führungspositionen und sind in viel grösserem Masse emanzipiert. Das hört man auch im Umgang mit der Stimme. Sie könnten zwar höher sprechen, tun es aber nicht.
Lässt sich dieses Studienergebnis auf die ganze Welt übertragen?
Nein. Dies gilt für Frauen aus Mitteleuropa. Wir wissen aus anderen Studien, dass wir im weltweiten Vergleich die tiefsten Stimmen in Skandinavien finden.
Im Kontrast dazu: Japan. Dort sprechen die Frauen deutlich höher, nicht zuletzt deshalb, weil dort die hohe Frauenstimme als Schönheitsideal gilt.
Die tieferen Frauenstimmen werden sicherlich auch nicht allen mitteleuropäischen Männern behagen.
Nein, manche Männer mögen sich durch tiefere Stimmen der Frauen bedroht fühlen, weil diese quasi in einen stimmlichen Bereich eindringen, der für den Mann, für seine Kompetenz und für seine Macht reserviert schien.
Wir empfinden mit, wenn der andere heiser spricht.
Hohe Stimmen signalisieren Schutzbedürftigkeit, ein Stück weit Unschuld, auch Unsicherheit. Wenn mich als Mann diese Eigenschaften ansprechen, dann finde ich Frauen mit hohen Stimmen begehrenswerter.
Andere Studien belegen, dass wir dazu neigen, tieferen Stimmen mehr Vertrauen zu schenken. Seine Stimme kann man auch ausbilden, damit sie tiefer wird. Wie wichtig ist Stimmtraining?
Enorm wichtig. Eine geschulte Stimme hat mehr Ausdrucksmöglichkeiten. Eine kranke Stimme beispielsweise hat gravierende Auswirkungen. Denn wir machen einen sogenannten «funktionellen Nachvollzug».
Das heisst, wir empfinden mit, wenn der andere heiser oder mit gepresster, rauer Stimme spricht. Dann empfinden wir die Anstrengung in uns selbst.
Wenn es nicht angenehm ist, jemandem zuzuhören, leidet auch der Inhalt, den diese Person vermitteln will.
Das hat bestimmt unangenehme Konsequenzen zum Beispiel in der Schule.
Und wie! Studien zeigen, dass die Lernleistung der Kinder zurückgeht, wenn die Stimme einer Lehrerin erkrankt und sie eine Geschichte nicht mehr so spannend erzählen kann. Wenn ich jemandem gerne zuhöre, weil ich die Stimme spannend und sympathisch finde, kann ich mich auch länger konzentrieren.
Menschen aus höheren Schichten sind es gewohnt, mit ihrer Stimme umzugehen.
Wir wissen auch, dass Kinder mit kranken, heiseren Stimmen sowohl von Erwachsenen als auch von Gleichaltrigen negativer beurteilt werden als Kinder mit gesunden Stimmen.
40 bis 80 Prozent dieser Kinder leiden psychisch unter der negativen Bewertung. Sie schämen sich für ihre Stimme und beteiligen sich auch weniger am Unterricht. Solche Stimmen gehören medizinisch abgeklärt.
Die 2'500 Probanden wurden auch auf ihre natürlichen Grenzen beim Singen getestet. Was haben Sie dabei herausgefunden?
Das Erstaunlichste ist, dass Menschen, die einer höheren sozialen Schicht angehören – einen höheren Bildungsabschluss haben oder mehr verdienen – auch stimmlich mehr Möglichkeit haben.
Die Tonhöhenumfänge, die Dynamikumfänge der Stimmen dieser Menschen sind grösser als die Stimmfelder von Personen aus niederen sozialen Schichten.
Warum ist das so?
Menschen aus höheren Schichten setzen ihre Stimmen beruflich häufiger ein als andere. Manager, Politiker oder Pädagogen haben oft eine trainierte Stimme. Sie sind es gewohnt, mit ihr umzugehen.
Darum hatten sie bei der Messung auch den Mut, die Grenzen der Stimmen wirklich auszuloten. Bei Menschen, die ihre Stimme nicht bewusst gebrauchen, war auch der Mut ein Handicap.
Was werden Sie als nächstes erforschen?
Wir wollen herausfinden, wie sich Krankheiten auf die Stimme auswirken. Uns interessiert, ob wir anhand der Stimme bestimmte Krankheiten diagnostizieren können. Wir können uns ja jetzt aus dem grossen Datenpool bedienen. Da forsche ich bis zur Rente (lacht).
Das Gespräch führte Nicole Salathé.
Sendung: SRF 1, Kulturplatz, 31.1.2018, 22:25 Uhr.