Zum Inhalt springen

Bergsturz Brienz Warum Brienz verschont blieb

Wieder verfehlt ein Schuttstrom das Dorf Brienz um Haaresbreite. Schon 1877 stoppten Felsmassen am Dorfrand. Diesmal wurde zwar Schlimmeres befürchtet, und doch hatte Brienz wieder Glück. Weil auch die aktuelle Rutschung ihren eigenen Charakter hat.

Nur wenige Meter fehlten, und die Felsmassen hätten nicht nur die Kantonsstrasse begraben, sondern auch Teile von Brienz. Ein Szenario, das die Geologen zuvor noch als wahrscheinlich erachteten. Doch der Mitten in der Nacht abgerutschte Teil der sogenannten Insel stoppte noch vor dem ersten Gebäude, dem ehemaligen Schulhaus.

Auch aufgrund einer historisch dokumentierten Rutschung haben die Geologen prognostiziert, wie gefährlich der jetzt niedergegangene Schuttstrom werden könnte. Nun verhielt sich dieser allerdings nicht wie berechnet.

1.2 von rund 2 Millionen Kubikmeter heruntergestürzt

Box aufklappen Box zuklappen

Das Institut für Schnee-und Lawinenforschung (SLF) ist mit einer Drohne über den abgegangenen Schuttstrom in Brienz GR geflogen und hat erste Vermessungen durchgeführt. Nachdem Experten am Freitagnachmittag vor den Medien in Tiefencastel GR von zwei Dritteln der absturzgefährdeten zwei Millionen Kubikmeter Gesteinsmassen gesprochen hatten, herrschte am Samstag Gewissheit: 1.2 Millionen Kubikmeter sind abgegangen.

Ob die restlichen Gesteinsmassen herunterkommen, ist derzeit noch unklar. Die zuständigen Geologen sagten am Freitag dazu, dass die Situation am Berg erstaunlich ruhig sei und es zu keinen grösseren Nachbrüchen gekommen war.

Schneller als der Schuttstrom von 1877

1877 ging nur wenige Dutzend Meter östlich des aktuellen Rutsches der sogenannte «Igl Rutsch» nieder. Wie den aktuellen Rutsch beschreiben die Geologen auch diesen als Schuttstrom. Heisst: Gesteinsmassen bewegen sich langsam talwärts, ähnlich wie das Honig tun würde. Beim Ereignis von 1877 betrug die Rutschgeschwindigkeit rund acht Meter pro Tag.

Beim aktuellen Schuttstrom waren es aber bei den letzten Messungen, bevor auch die letzten Messpunkte abstürzten, 40 Metern pro Tag. Glitt der «Igl Rutsch» über mehrere Wochen ab, dauerte das aktuelle Ereignis nur wenige Stunden. Nach einem Modell Stand März hätte der aktuelle Schuttstrom bei derselben Dynamik wie der «Igl Rutsch» das Dorf mit einer Wahrscheinlichkeit von 65 Prozent teilweise und mit einer von 30 Prozent komplett zerstört worden.

Schnell – aber auch schnell gebremst

Auf den ersten Blick mag es paradox erscheinen: Der aktuelle Rutsch war schneller als der «Igl Rutsch», kam aber trotzdem früher als berechnet zum Stillstand. Der Grund dürfte in der Gesteinsart der Schuttströme liegen. Der aktuelle Schuttstrom besteht grösstenteils aus brüchigem Vallatscha-Gestein. Der «Igl Rutsch» hingegen aus toniger Allgäuformation. Diese glitt so zusagen zu Tal.

Die Vallatschaformation ist alles andere als glitschig. Viel eher ist sie ein Haufen rauer Felsblöcke, welche untereinander eine hohe Reibung haben. Diese hohe Reibung bremste den Rutsch entsprechend schneller. Zum Glück des Dorfes. Zwar blieb auch der «Igl Rutsch» von 1877 am Dorfrand stehen. Doch er ging in deutlich flacherem Gelände nieder.

Rutscht der Rutsch weiter?

Was der «Igl Rutsch» die Geologen auch lehrt: Möglicherweise rutscht der aktuelle Inselrutsch noch weiter. Das wird dann allerdings eher ein Kriechen sein. Denn auch der «Igl Rutsch» bewegt sich bis heute 10 bis 20 Zentimetern pro Jahr talwärts. Und das auf dem Dorfplateau, welches selber talwärts rutscht. Gerade bei viel Regen oder starker Schneeschmelze ist es nicht ausgeschlossen, dass auch der aktuelle Rutsch weiter geht. Allerdings wohl auch höchstens im Kriechgang.

Rendez-vous, 16.06.2023, 12:30 Uhr

Meistgelesene Artikel