Der Biologieprofessor Christian Wirth hat schon immer gern gelesen. Irgendwann hat er aus dem «Taugenichts» von Joseph Eichendorff alle Tier- und Pflanzennamen rausgeschrieben: «Ich kam auf ungefähr 200 verschiedene Arten», sagt der Leipziger Professor.
Daraus entstand die Idee zu einem Forschungsprojekt. Christian Wirth wollte herausfinden, ob der Schwund der Biodiversität sich in der Literatur widerspiegelt, ob also der Verlust vieler Arten die Weise prägt, wie wir Menschen unsere Umwelt beschreiben.
Literatur aus gut 250 Jahren
Dafür haben sich Natur- mit Literaturwissenschaftlerinnen zusammengetan und Bücher mit den Methoden und Masszahlen der Ökologie untersucht: «Wir haben die Bücher so betrachtet wie die Waldökosysteme oder Wiesen», sagt Wirth.
Die Expertise der Literaturwissenschaftler half, die Texte einzuordnen: «Ein Vergleich wird viel schwieriger, wenn man berücksichtigt, welche Funktion Literatur zu unterschiedlichen Zeiten zugeschrieben wird», sagt Roland Borgards, Germanistikprofessor an der Universität Frankfurt am Main . Es könne ja sein, dass Natur für Autor- und Leserinnen einer bestimmten Epoche ein viel wichtigeres Thema war als für die einer anderen. Dann sähe es so aus, als habe sich die biologische Vielfalt verschoben, obwohl sich eigentlich das Interesse der Autoren verändert hat.
Viele Pflanzen und Tiere, aber immer die gleichen
Am Ende stand ein klares Ergebnis: In den ersten 120 Jahren des Untersuchungszeitraums wuchs die Artenvielfalt in der Literatur. Auch wenn sie sich nicht letztgültig belegen lässt, ist doch dies die plausibelste Erklärung: Das ist eine Zeit der Entdeckungen. Naturforschende bereisten ferne Kontinente und beschrieben Tausende neue Arten. Auch das Bildungssystem verbesserte sich.
Die Überraschung für Roland Borgards: Ihren Höhepunkt erreicht die Artenvielfalt in der Literatur bereits Anfang des 19. Jahrhunderts. Also gut ein halbes Jahrhundert vor der Zeit des Realismus und des Naturalismus, als Autoren Natur möglichst detailgetreu zu schildern versuchten.
Die Autoren bemühen sich immer noch über Tiere und Pflanzen zu schreiben, aber ihnen scheinen weniger unterschiedliche Arten einzufallen.
Christian Wirth hat über etwas anderes gestaunt: Auch danach blieb die Zahl der Tiere und Pflanzen in den Büchern in etwa gleich, sagt er, aber die Vielfalt schrumpfe: «Die Autoren bemühen sich immer noch über Tiere und Pflanzen zu schreiben, aber ihnen scheinen weniger unterschiedliche Arten einzufallen.»
Reale und literarische Artenvielfalt schrumpfen
Der nahe liegende Grund dafür: Über den gesamten untersuchten Zeitraum ist die Artenvielfalt – die real existierende, nicht die literarische – tatsächlich geschrumpft. Zunächst langsam und dann immer schneller. Verstädterung und Industrialisierung liessen die Landschaft aus ökologischer Sicht zusehends verarmen. Und laut der Studie auch in der Literatur.
Mitten im sechsten Massenartensterben der Erdgeschichte ist das eine wichtige Erkenntnis. Denn Autorinnen sind ein Spiegel der Gesellschaft als ganzer. Und wenn deren Wissen über Biodiversität schrumpft, schwindet auch das Bewusstsein dafür, dass wir diese Artenvielfalt schützen müssen.