- Am abgelagerten Schmalz im Ohr eines Wals lässt sich, wie an Jahresringen eines Baumes, dessen Alter ablesen.
- Die eingelagerten Stoffe im Ohrpropfen erzählen Forschern viel über das Leben des Wals und den Wandel seiner Lebensbedingungen.
- Die Forschung an Walohrenschmalz haben zwei amerikanische Forscher ins Leben gerufen.
Das Gehör von Walen funktioniert anders als bei Menschen. Bei Walen gelangt der Schall nicht durch den Ohrkanal ins Innenohr, sondern via Gewebe und Schädelknochen.
Den Ohrkanal gibt es zwar, erklärt der Walphysiologe Stephen Trumble von der texanischen Baylor University. Aber er ist gefüllt mit einem Pfropfen aus Wachs, Fett und Keratin: Ohrenschmalz.
Ein halber Meter Ohrenschmalz
Die Ohrpfropfen eines Wals können zu beachtlicher Grösse heranwachsen: In einem Grönlandwal stiess Trumble auf ein Exemplar von 53 Zentimeter Länge und einem Kilo Gewicht: «Ein Kilo Ohrschmalz – das ist schon ziemlich eklig.»
Der Ohrpropfen hat eine Konsistenz, die der von Kerzen ähnelt – und riecht, nun, nach Wal, berichtet Trumble.
Wie ein Baumstamm
Das Ohr eines Wals geht die Schmalzproduktion sehr planmässig an: Die Haut des ganzen Ohrkanals lagert die Substanz Schicht um Schicht ab, so dass ein geordneter Pfropf entsteht. Schneidet man ihn quer zu seiner Längsachse durch, wird eine saubere Anordnung von Ringen sichtbar – wie bei einem Baum. Alle sechs Monate entsteht ein solcher Ring.
Eine Idee beim Kaffee
Das heisst: Am Ohrpfropf eines Wals kann man sein Alter genau ablesen. Das fanden gewitzte Forscher bereits vor hundert Jahren heraus – aber auf diesem rudimentären Stand blieb die Walohrenschmalz-Forschung bis vor Kurzem stehen. Das änderte sich erst, als Stephen Trumble mit seinem Unikollegen Sascha Usenko wieder einmal einen Kaffee trank.
Das Gespräch kam auf die Altersbestimmung von Walen und Trumble erklärte den Trick mit den Pfropfen. Usenko war sofort ganz Ohr – denn das erinnerte ihn an seine eigene Forschung an Meeressedimenten.
Diese Ablagerungen am Meeresboden sind ebenfalls in Schichten organisiert. Man kann von ihnen viel über die Erdgeschichte lernen: Denn in diesen Schichten sind viele Stoffe enthalten, die verraten, wie die Welt ausgesehen hat, als sie abgelagert wurden.
Pubertierender Blauwal
Vielleicht, schlug Sascha Usenko vor, werden solche Chemikalien auch im Ohrenschmalz abgelagert – und man kann sie später darin finden? Stephen Trumble besorgte in einem Museum den Ohrpfropfen eines Wals. Danach dauerte es eineinhalb Jahre, bis die beiden Forscher aus den einzelnen Sechs-Monats-Ringen verschiedene chemische Stoffe isolieren konnten.
Kurz darauf bekam Trumble den Ohrenpfropfen eines Blauwals, der bei der Kollision mit einem Schiff ums Leben gekommen war. Seine Untersuchung eröffnete ungeahnte Einblicke in die Sexualentwicklung des Blauwals. Als er neun Jahre alt war, wurde deutlich mehr Testosteron im Ohrenschmalz abgelagert: Der Junge wurde geschlechtsreif.
Gleichzeitig stieg der Kortisonspiegel auf Rekordhöhen – der Wal war stark gestresst. «Wir mussten lachen, als wir diese Daten erhielten», erzählt Trumble, «denn es hat uns an unsere eigene Jugendzeit erinnert.»
Schadstoffe in der Muttermilch
Für die Walforschung ist die neue Methode ein Quantensprung. Bis dahin hatte niemand im Traum daran gedacht, den lebenslangen Hormonspiegel eines Wals messen zu können.
Schon die erste Analyse des Blauwal-Ohrenschmalzes enthüllte aber noch mehr: Trumble konnte darin auch organische Schadstoffe und Quecksilber nachweisen und den Lebensabschnitten des Wals zuordnen. Dabei wurde deutlich, dass der Blauwal bereits als Baby eine gehörige Portion an organischen Schadstoffen aufgenommen hatte – wahrscheinlich über die Muttermilch.
Die Zeitkapsel im Ohr
Viele Wale wandern Tausende von Kilometern durch die Ozeane. Das macht sie – oder genauer gesagt ihren Ohrenschmalz – zu einer wandelnden Messstation samt Datenspeicher, sagt Trumble: «Die Wale nehmen Stoffe aus dem Wasser und der Atmosphäre auf und lagern sie ihr Leben lang im Ohrenschmalz ab – es entsteht eine Art Zeitkapsel.»
Den bisher ältesten Ohrpfropfen fand Stephen Trumble in der Sammlung des Londoner Naturhistorischen Museums – er war von 1909. Und weil manche Wale über 100 Jahre alt werden, kann man per Ohrenschmalz ihre Lebensbedingungen bis zurück ins 19. Jahrhundert untersuchen.
Etwa 20 Ohrpropfen hat Stephen Trumble bisher analysiert. Untersuchungsmaterial liefern neben Museen auch Walforscher, die verendete Wale sezieren. Einmal versuchte Trumble sich selbst im Obduzieren. Eine blutige Plackerei, die sich aber lohne, wenn man dafür die 60-jährige Lebensgeschichte eines Wals erhalte.
Sendung: Radio SRF 2 Kultur, Wissenschaftsmagazin, 04.03.2017, 12:38 Uhr