Das Wichtigste in Kürze
- Im arktischen Ozean leben viele Tiere. Bis vor kurzem dachten die Forscher, dass sie im Dunkel der Polarnacht ruhen. Nun zeigt sich: auch im Winter sind die meisten sehr aktiv.
- Die Arktis verändert sich. Das Meer wird wärmer und das Eis bildet sich langsamer. Dadurch ändert sich auch das Ökosystem: Neue Arten werden heimisch.
- Norwegische Forscher untersuchen die Lebewesen, die sie in der Dunkelheit der Polarnacht aus dem Wasser fischen. Dadurch wollen sie die Veränderungen in der Arktis besser verstehen.
Lesedauer: 15 Minuten
Alle Lichter an Deck sind gelöscht, Fenster und Luken verhüllt: In der Dunkelheit pirscht sich die «Helmer Hanssen» an ihre Beute heran.
Eingepackt in Wärmekleidung stehen zwei Forscherinnen an der Reling und blicken über die Bordwand in die Tiefe. Im schwachen Rotlicht ihrer Kopflampen taucht ein feinmaschiges Netz aus den Wellen.
Jagd nach lichtscheuen Plankton-Organismen
«Wir fangen in verschiedenen Wassertiefen Plankton», sagt Raphaelle Descoteaux, Meeresbiologin von der Universität Tromsø. «In dieser Jahreszeit ist es hier rund um die Uhr dunkel, und die Plankton-Organismen fürchten das Licht.»
Die Krebschen, Einzeller und anderes Getier flüchten vor jeglicher Helligkeit in tiefere Wasserschichten. Über dem Wasser segeln Eissturmvögel und spähen nach Beute.
Flucht als einzige Lösung?
Noch vor wenigen Jahren hätte kein Biologe dieses Szenario für möglich gehalten, sagt Rolf Gradinger. Auch er ist von der Universität Tromsø und leitet die Expedition des Forschungsschiffs «Helmer Hanssen».
Die Wissenschaftler dachten, dass alle Tiere, die irgendwie können, der eisigen Polarnacht entfliehen. «Alle anderen, so damals die Standardantwort, tun nichts und versuchen mit ihren Reserven im Körper möglichst lange durchzuhalten.»
In der Polarnacht tobt das Leben
Mittlerweile ist klar: Auch in der Polarnacht tobt das Leben im arktischen Ozean. Darum umrunden die Forscher der «Helmer Hanssen» in diesen Novembertagen die weit im Norden liegende norwegische Insel Spitzbergen.
«Wir haben lange nicht bemerkt, wie viel in der Polarnacht los ist», sagt Rolf Gradinger, «weil es kaum Expeditionen im Winter gab».
Die Polarnacht zog den Kürzeren
Ausserdem seien Forschungsfahrten in der Arktis sehr teuer: «Beispielsweise kostet eine Sekunde auf einem amerikanischen Eisbrecher einen Dollar.» Pro Tag macht das dann über 86'000 Dollar.
Die Forscher müssen sich genau überlegen, in welche Expeditionen sie das knappe Geld investieren wollen. Der anscheinend langweilige Winter zog da früher meist den Kürzeren.
Ein Lichterfest
Auf Deck spült Raphaelle Descoteaux im roten Schein ihrer Kopflampe jede Falte des Planktonnetzes mit Meerwasser aus. Sie will auch jede noch so kleine Kreatur erwischen. Immer wieder leuchten im Netz blaue Punkte auf.
«Das sind kleine Krebse, die Licht erzeugen können», sagt Descoteaux. Viele Meerestiere beherrschen diese Biolumineszenz: Algen, Bakterien, Quallen, Würmer, Fische. Manche kommunizieren so mit Artgenossen, andere locken Beute an. Unter Wasser ist die Polarnacht ein Lichterfest.
An Deck gefangen, zu Hause untersucht
«Ich bin besonders an den Larven mariner Bodenbewohner interessiert, also an ihren Jugendstadien», sagt Raphaelle Descoteaux. Der Nachwuchs von Seesternen, Seeigeln, Muscheln und Würmern segelt wochen- und monatelang als winzige transparente Wesen durchs Wasser, auf der Suche nach einem guten Plätzchen auf dem Meeresboden.
Die meisten Larven sind so klein, dass sie selbst unter dem Mikroskop nicht auseinanderzuhalten sind. Descoteaux ertränkt ihren Fang in Alkohol, das macht ihn haltbar. Zuhause im Labor an der Universität Tromsø wird sie das Erbgut der eingefangenen Organismen entschlüsseln, um herauszufinden, wer ihr ins Netz gegangen ist.
Wasser aus den Tropen
Als Descoteaux das Netz ausgeworfen hat, befindet sich die «Helmer Hanssen» nördlich von Spitzbergen – auf 80 Grad und 20 Minuten Nord. Wenig mehr als 1000 Kilometer sind es zum Nordpol, und doch ist das Wasser für arktische Verhältnisse fast tropisch warm: vier Grad Celsius.
Dieses Wasser kommt auch beinahe aus den Tropen: Der äusserste Ausläufer des Golfstroms zieht an der Westküste Spitzbergens vorbei, bevor er unter das kalte Polarwasser in die Tiefe sinkt.
Umwälzungen im Ökosystem
«In den letzten Jahren kommt immer mehr und immer wärmeres Wasser nach Norden», sagt Rolf Gradinger. Er und andere Wissenschaftler befürchten, dass dies das Ökosystem im arktischen Ozean umwälzen könnte.
Einheimische Tiere wie der Polardorsch lieben Wassertemperaturen von minus anderthalb Grad, in ihrem Blut zirkuliert ein Frostschutz. Bei vier Grad plus kämen sie ins Schwitzen, wenn sie schwitzen könnten.
Die Wärme lockt Eindringlinge
Der warme Wasserstrom aus dem Süden könnte eine riesige Menge potenzieller Eindringlinge mitbringen, fürchten Gradinger und Descoteaux: Die Larven atlantischer Seesterne, Muscheln, Würmer und Seeigel.
«Weil das Wasser immer wärmer wird, überleben diese Larven vielleicht, setzen sich auf dem arktischen Meeresboden ab und verdrängen einheimische Arten», sagt Descoteaux.
Es könnte aber auch sein, dass die harsche Polarnacht wie eine Desinfektionsbehandlung wirkt und die südlichen Eindringlinge, die sich im milderen Sommer einnisten konnten, erfrieren lässt. Nur weiss das bislang niemand, darum fischt Raphaelle Descoteaux im Dunkeln.
Angst vor den Einwanderern
«Wenn Einwanderer vom Süden die lokale Fauna verdrängen, sind der Meeresboden und das Meer natürlich nicht leer, es leben dann die neuen Arten hier», sagt Rolf Gradinger.
Aber diese Veränderungen würden sich wohl bis an die Spitze der arktischen Nahrungskette auswirken, jene Spitze, die viele Menschen kennen und lieben: die Eisbären, die Robben, Walrosse und Wale.
Walrosse unter Nahrungsdruck
Walrosse zum Beispiel holen sich ihr Futter – Muscheln und Krebschen – vom Meeresboden. «Es könnte sein, dass die Einwanderer aus dem Süden eine schlechtere Nahrung darstellen als die einheimischen Arten», sagt Rolf Gradinger. Und das könnte die Walrosse zusätzlich unter Druck setzen.
In manchen Regionen der Arktis leiden die Riesen mit Schnauzer und Stosszähnen bereits heute, weil das Meereis drastisch abgenommen hat. Normalerweise starten sie ihre Fresstauchgänge vom Eis aus.
Zurück in die eisige Kälte
Im warmen Labor unter Deck bringt Raphaelle Descoteaux die letzten Notizen zu Papier, die den Planktonfang dokumentieren, schnippt die Hausschuhe in die Ecke, schlüpft in die gefütterten Gummistiefel und eilt die Treppe hoch.
Nun ist das Hinterdeck der «Helmer Hanssen» ins gelbe Licht einiger Scheinwerfer getaucht. Eisiger Wind treibt Schneeflocken durch die Luft.
Zwei Matrosen bereiten einen «Beam Trawl» vor: ein kleines Netz, das von einem Balken aufgespreizt wird. Unter Rumpeln und Kettenklirren gleitet es über die Rutsche am Heck ins Wasser.
Brachiale Volkszählung auf dem Meeresgrund
Das Schiff fährt weiter und das Netz schrappt für fünf Minuten über den Meeresboden. Es sammelt alle Bewohner ein, die auf seinem Pfad liegen. Zurück bleibt eine schlammige Schneise.
Die Forscherinnen und Forscher müssen auch zerstören, um ihre Erkenntnisse zu gewinnen. In diesem Fall könnte man von einer brachialen Volkszählung auf dem Meeresgrund sprechen.
Als die Matrosen die Seilwinde anwerfen und das Netz nach oben hieven, warten vier Forscherinnen und Forscher bereits darauf. Zwischen den Maschen sind Seesterne zu sehen, und ein Fisch wie ein Seeungeheuer: langer, gedrungener Körper, ein Flossensaum am Rücken, dicker Kopf mit Wulstlippen. Ein seltener Wolfsfisch, der bei den Forschern begeisterte Rufe auslöst.
Die Nadel im Schlammhaufen
Sie schichten die braune Masse aus Schlamm, Leibern, Gliedern und Gallerte vom Netz in Eimer um, die sie ins Labor unter Deck bringen. Das grosse Sortieren beginnt. Über viele Stunden klamüsern die Forscherinnen und Forscher das Chaos auseinander, in das ihr Netz die Meeresboden-WG verwandelt hat.
Langsam entsteht aus der gewachsenen Ordnung der Natur die schematische des Menschen: hier die Seesterne, da die Vielborster, hier die Muscheln, dort die Fische.
Schlammschlacht: Wie ein Fang geordnet wird
Die Aufgabe ist kaum zu bewältigen: An allem klebt Schlamm, alles ist durchsetzt mit den abgerissenen Gliedern der Schlangensterne. In den Schuppen und Borsten kleben winzige Würmchen oder transparente Gallertkügelchen mit roten Punkten – und an all dem sind die Forscher interessiert, man darf sie also nicht übersehen.
In der ewigen Nacht gibt es kaum Schlaf
Viele dieser Wesen sehen sich so ähnlich, dass sie erst unter dem Mikroskop ihre Artzugehörigkeit preisgeben – natürlich nur eingeweihten Augen.
Diese Augen aber sind ständig übernächtigt. Zeit ist Geld auf der «Helmer Hanssen», die an acht Orten anhält, manchmal tagsüber, öfter jedoch in der Nacht. Dann gleiten verschiedenste Netze ins Wasser, Temperatur, Salzgehalt und anderes wird gemessen, unzählige Wasser- und Schlammproben genommen.
Sogar Schwebeteilchen, die durch den Ozean driften, werden emsig eingesammelt. Und alles muss sofort verarbeitet werden, damit es nicht verdirbt: filtriert und konserviert, geschlämmt und sortiert.
Müdigkeit ist Dauergast
Fast keine Forscherin, fast kein Forscher findet mehr als zwei, drei Stunden Schlaf am Stück. Kombiniert mit der gelegentlichen Seekrankheit ein toxischer Mix. «Die Zeit zerfliesst komplett», sagt die Fischbiologin Julia Gossa. «Es ist draussen ja auch immer dunkel.»
Den einzigen Takt geben die drei Mahlzeiten vor, die pünktlich in der Schiffsmesse serviert werden – wenn man nicht gerade schläft.
Eine zähe Müdigkeit ist Dauergast auf der «Helmer Hanssen», aber dies tut der Kameradschaft keinen Abbruch. Wer seine Messungen erledigt hat und ein paar Stunden Pause machen konnte, hilft anderen Teams, beispielsweise beim Sortieren, das nie zu enden scheint.
Junges Eis in Sicht
In der zweitletzten Nacht der Expedition, im Van Mijenfjord im Süden Spitzbergens, erfüllt sich ein sehnlicher Wunsch einiger Forscher: Im Fjord treibt ganz junges Eis, das sich gerade bildet.
Es sieht ähnlich aus wie ins Wasser geworfener Schnee. Eine Forscherin und zwei Forscher zwängen sich in die steifen, orangen Überlebensanzüge und staksen an Bord der «Polarcirkel», dem Beiboot der «Helmer Hanssen».
«Meereis ist wie Schweizer Käse»
Ein Matrose lässt das Beiboot mit der Seilwinde ins Wasser, dann nimmt die «Polarcirkel» Kurs auf den hintersten Arm des Fjords, wo die Forscher am meisten junges Eis vermuten. Nach zwei Stunden taucht der Scheinwerfer des Beiboots wieder aus dem Dunkel auf. Es ist beladen mit Kanistern voller Jungeis.
«Meereis ist wie Schweizer Käse», sagt Rolf Gradinger, «es ist von winzigen Kanälen durchzogen». Durch die Sole in diesen Kanälen schwimmen unzählige Kreaturen: Algen, verschiedene Einzeller, Würmer, Krebschen – ein ganzer Mikrobenzoo, der letztlich von der Energie lebt, die die Algen aus dem Sonnenlicht gewinnen.
Im Frühling bricht das Eis auf, die Algen und mit ihnen der ganze Zoo wandert ins Wasser und liefert den Tieren dort wichtige Nahrung.
Überleben im Eis
«Uns interessiert brennend, wie das junge Eis im Winter von diesen Organismen besiedelt wird», sagt Rolf Gradinger. «Der Lebensraum in den Kanälen unterscheidet sich dramatisch vom offenen Wasser.»
Der enge Platz zum Beispiel: Viele Organismen, die vom entstehenden Eis eingeschlossen werden, werden von den Eiskristallen wohl zerquetscht.
Und es kann im Eis sehr kalt werden. Das Meerwasser unter der Eisdecke kühlt auch im kältesten Winter nicht unter minus zwei Grad ab. Das Eis aber nähert sich der Lufttemperatur darüber an – und die kann –20 bis –30 Grad betragen. Bei dieser Kälte wird die Sole in den Kanälchen viel salziger als normales Meerwasser. All dies müssen die Meereis-Organismen meistern.
Das Eis kommt später
Vor 10, 15 Jahren wäre die «Helmer Hanssen» Ende November auf mehr Eis gestossen als heute.
Zwar haben die Forscher auf der aktuellen Fahrt auf der Ostseite Spitzbergens kältere Wassertemperaturen gemessen als im Westen: etwas weniger als minus ein Grad. Weil aber die Luft nur einige Minusgrade kalt gewesen ist, hat sich noch kein Eis bilden können.
Schnelle Wandlung der Arktis
«Heute gefriert das Meer auf der Ostseite Spitzbergens etwa einen Monat später als vor zehn Jahren», sagt Gradinger. Und im wärmeren Westen fast gar nicht mehr, ausser an einigen besonderen Stellen wie im Van Mijenfjord.
«Die Arktis verändert sich rasend schnell, und wir sind von einigen Veränderungen vollkommen überrascht worden.» Gradinger spricht von einer «neuen Arktis», die sich gerade entwickle.
Die neue Arktis verstehen
Um diese neue Arktis zu verstehen, brauche es dringend mehr Daten von der Umwelt, sagt er. Daten, wie sie die 15 Forscherinnen und Forscher an Bord der «Helmer Hanssen» gesammelt haben.
Die Umrundung von Spitzbergen hat einen seltenen Schnappschuss vom Zustand des arktischen Ozeans in der Polarnacht geliefert. Im Blitzlicht aufgetaucht sind vor allem kleinere Organismen: Bakterien, Pilze, Algen, Seesterne und Krebse.
Ausgewertet und gegessen
Die Fische sind quasi nur als Gäste auf dem Porträt. Sie waren nicht im Fokus der Expedition, sind aber als unvermeidlicher Beifang in den Netzen gelandet.
Weil die Forscher nichts verschwenden wollen, haben sie auch diese Fänge ausgewertet: Wer ist wo in welchem Zustand ins Netz gegangen? Die grossen Exemplare haben die Wissenschaftler sogar doppelt verwertet: sie haben sie gegessen.