Das Geweih des Hirsches ist nicht nur eine imposante Erscheinung, sondern auch ein wahres Wunderwerk der Natur. Jeweils zwischen Februar und April verliert der Hirsch sein Geweih. Innerhalb von vier bis fünf Monaten wächst es wieder nach. Mit einem maximalen Längenwachstum von rund zwei Zentimetern pro Tag ist es das schnellste Organwachstum im Tierreich.
Hirsche erholen sich von Knochenschwund
Wie kann der Hirsch sein Geweih in so kurzer Zeit erneuern? Woher bezieht das Tier die Energie für ein solch schnelles Knochenwachstum? Der spanische Biologe Tomas Landete Castillejos kennt die Antworten. Er untersucht seit Jahrzehnten die Geweihe der Tiere auf einer Farm in Albacete.
«Für so ein rasantes Wachstum reichen die Mineralien, die Hirsche über die Nahrung zu sich nehmen, nicht aus. Deshalb müssen sie das Kalzium aus ihrem Skelett für das Geweih verwenden», erklärt der Forscher. Das führe zu einer Art Osteoporose, von der sich die Tiere aber jedes Jahr wieder erholen, so Castillejos.
Sie müssen das Kalzium aus ihrem Skelett für das Geweih verwenden.
Während Knochenschwund beim Menschen nicht rückgängig gemacht werden kann, erholen sich die Knochen der Hirsche wieder, sobald das Geweihwachstum nachgelassen hat. Diese Erkenntnisse will Landete Castillejos für die Medizin nutzen.
Wenn er das Geweihwachstum noch besser versteht, könnte es sogar sein, in Zukunft Osteoporose beim Menschen zu heilen. Noch ist er weit davon entfernt – aber der Ansatz ist sehr vielversprechend.
Amputierte Arme nachwachsen lassen
Auch die Zwillingsbrüder Uwe und Horst Kierdorf aus Hildesheim in Niedersachsen sehen im Geweihwachstum der Hirsche Möglichkeiten für die Medizin. Die Biologen erforschen, ob es Menschen in Zukunft gelingen könnte, amputierte Knochen nachwachsen zu lassen.
Horst Kierdorf will den Vorgang des Knochenwachstum des Geweihs auf Knochen des Menschen übertragen: «Nicht alles, was der Hirsch kann, wird der Mensch auch können. Aber wir sind beide Säugetiere, das heisst wir haben schon eine ähnliche Physiologie.» Es stelle sich die Frage, was an der Physiologie des Hirsches so besonders sei, die es ihm ermöglicht, eine Riesenstruktur wie ein Geweih jährlich zu regenerieren.
Nicht alles, was der Hirsch kann, wird der Mensch auch können.
Tatsächlich wächst kleinen Kindern der kleine Finger nach, wenn er abgetrennt wurde – diese Fähigkeit geht jedoch nach wenigen Jahren verloren. Ein Hirschgeweih hingegen wächst ein Leben lang. «Wenn wir diesen einzigartigen Vorgang der Regeneration eines komplexen, sehr grossen Knochens besser verstehen würden, könnten wir vielleicht auch Möglichkeiten finden, das eingeschränkte menschliche Regenerationsvermögen, zu stimulieren», erläutert Uwe Kierdorf.
Der Rothirsch könnte uns vielleicht also in Zukunft helfen, amputierte Gliedmassen nachwachsen zu lassen. Noch sind solche Szenarien Science-Fiction. Aber die Rezepte aus der Natur könnten wegweisend sein für die Medizin.