Dass es in Analamazaotra überhaupt noch Indris gibt, verdanken sie auch einem lokalen Mythos. «Demnach hat ursprünglich ein Brüderpaar im Wald gelebt und hatte ein fröhliches Auskommen», sagt Rainer Dolch und schaut hinauf in die Baumkronen des Regenwalds, ein Schutzgebiet im Osten Madagaskars.
Der Biologe arbeitet seit 25 Jahren auf der Insel im Indischen Ozean, seit 2002 für die lokale Naturschutzorganisation Mitsinjo, was übersetzt bedeutet: für die Zukunft vorsorgen. «Dann verliess einer der Brüder den Wald und wurde zum Menschen», erzählt Dolch weiter, «während derjenige, der im Wald blieb, zum Indri wurde.»
Indris erinnern mit ihrem schwarz-weissen Fell und den runden Ohren an eine Mischung aus Koala und Pandabär. Sie sind die grösste Lemurenart, und vielerorts werden die bis knapp zehn Kilogramm schweren Tiere gejagt. Charakteristisch sind ihre lang gezogenen Rufe, die an melancholische Walgesänge erinnern.
«Die Tatsache, dass die Indris nach wie vor mit diesen lauten Rufen ihre Territorien markieren», sagt Dolch, «wird in der Region so interpretiert, dass der zurückgebliebene Bruder im Wald nach wie vor seinen Bruder ruft.»
Die Brüder im Wald nicht jagen!
Für Menschen, die an diese Geschichte glauben, ist es tabu – auf Madagassisch «fady» –, die Brüder im Wald zu töten. Nicht das einzige Tabu in der vielfältigen Kultur von Madagaskar. Jede Region, mitunter jedes Dorf, hat eine eigene Sammlung solcher überlieferter Regeln.
Orte können fady sein, bestimmte Handlungen oder Nahrungsmittel. Es kann etwa verboten sein, bestimmte Gegenstände mit der linken Hand aufzuheben. Beim Stamm der Merina verbietet der Glaube, ein Buckelrind ohne Hörner zu essen. Für Schwangere ist Aal tabu – der Fisch wird mit Fehlgeburten in Verbindung gebracht.
Auch zu bedrohten Wildtieren gab es in der Vergangenheit klare Regeln: Die Antandroy, eine Ethnie aus dem trockenen Süden der Insel, assen keine Lemuren. Die Sakalava aus Westmadagaskar dagegen schon. Für die Mahafaly wiederum waren Schildkröten tabu. Doch die Zeiten ändern sich, wie der US-amerikanische Biologe Steve Goodman beobachtet hat.
Nahrungstabus verlieren an Bedeutung
«Als ich in Madagaskar ankam, waren die Fadys eindeutig», sagt Goodman, der seit 30 Jahren auf der Insel forscht und auch schon lange dort lebt. «Jetzt mischt sich alles: Angehörige der Antandroy arbeiten auf Zuckerrohr-Feldern im Norden, Betsileo in den Minen im Süden – und die Fadys ändern sich dramatisch.»
Mitunter werden die Tabus auch trickreich umgangen. Wer selbst keine Lemuren essen darf, jagt sie trotzdem und verkauft sie an Mitglieder anderer Ethnien.
Dieselbe Entwicklung stellt Désiré Rabary fest. Seit Jahrzehnten unterstützt er als Feldassistent die biologische Forschung im Marojejy Nationalpark im Nordosten Madagaskars. Er hat sogar ein eigenes kleines Naturschutzgebiet in der Nähe gegründet, zu dem er Land dazu kauft, wann immer er Geld gespart hat. «Hier ist ein Schmelztiegel unterschiedlicher Ethnien. Nahrungstabus haben darum im Grunde keinen Effekt mehr.»
Schlechte Aussichten für die Tierwelt
Fadys werden nicht genügen, um die einmalige Artenvielfalt Madagaskars zu schützen. Zumal politische Krisen und die bittere Armut der meisten Madagassen das Problem verschärfen. Etwa 90 Prozent der Menschen leben von weniger als umgerechnet zwei US-Dollar pro Tag. Politische Instabilität lässt Korruption und illegalen Handel blühen.
Um ihren Lebensunterhalt zu erwirtschaften, roden viele Menschen Wald – oder sie gehen wildern. Nach Angaben der Weltnaturschutzunion sind nicht nur die Indris sondern etwa 90 Prozent aller Lemuren vom Aussterben bedroht. Ebenso düster sieht es für knapp die Hälfte aller madagassischen Reptilien aus.