Wandertauben waren die häufigste Vogelart des Kontinents und vermutlich der ganzen Welt. Einst zogen riesige Schwärme durch den nordamerikanischen Himmel – was für ein Naturereignis das war, beschrieb ein Augenzeuge im Jahr 1871:
«Und dann setzte ein Getöse ein, so wild, dass alle Geräusche, die ich bis dahin gehört hatte, mir wie ein Wiegenlied erschienen. Der Lärm war der reine Schrecken: wie 1000 Güterzüge, die aufs Mal vorbeirattern – kombiniert noch mit einem Tornado. Diese Beschreibung kann vielleicht einen schwachen Eindruck davon geben, wie es war, als die gigantische Wolke aus Wandertauben an uns vorbeizog.»
Milliarden-Schwärme am Himmel
Der bekannte amerikanische Vogelkundler John James Audubon berichtete von einer Reise zu Pferd: Während der ganzen drei Tage, die er unterwegs war, überflog ihn ein nicht enden wollender Schwarm von Wandertauben. Die vorüberziehenden Vögel verdunkelten tagsüber die Sonne und ihr Kot fiel unablässig wie Schnee vom Himmel herab auf Audubon. Wissenschaftler schätzen heute, dass in solchen Schwärmen bis zu 3,7 Milliarden Tiere mitflogen.
Die Wandertauben zogen durch die Weite Nordamerikas auf der Suche nach Wäldern, in denen Bäume gerade besonders reiche Frucht trugen. Vor allem auf Eicheln hatten sie es abgesehen. Dieses reiche Nahrungsangebot war ein Grund, warum die Wandertaube so zahlreich werden konnte. Ein anderer: Sie hatte kaum Feinde, nur zwei Falkenarten schlugen ab und an eine Taube.
Einmal im Jahr versammelten sich die Wandertauben zum gemeinschaftlichen Brüten. Oftmals nahmen sie dafür hundert Quadratkilometer und mehr in Beschlag. «Die Tauben landeten in solcher Zahl auf den Bäumen, dass manche brachen oder umfielen», erzählt der Vogelkundler Joel Greenberg. «Und wir reden hier nicht von schwachen Weiden, sondern von grossen Eichen.»
Tödlich effiziente Taubenjagd
Im Laufe des 19. Jahrhunderts stellten immer mehr Jäger der Wandertaube nach. Die Vögel wurden mit Korn geködert, worauf versteckte Netze auf die fressenden Tiere niederfielen. So fingen die Taubenschlächter viele hundert Wandertauben aufs Mal, erzählt Greenberg.
Allerdings konnten die Tauben unter den Netzen ausbrechen, wenn zu viele gleichzeitig darin gefangen wurden. Um dies zu verhindern, stürzten sich die Vogelfänger auf die Tiere und bissen ihnen ins Genick. Ein Jäger berichtete, er habe so oft zugebissen, dass ihm Zähne ausfielen.
Zwei technische Entwicklungen heizten in der Mitte des 19. Jahrhunderts die Jagd auf die Wandertaube an: die Erfindungen des Telegrafen und der Eisenbahn. Wurde nun irgendwo auf dem Kontinent ein Schwarm oder eine Brutkolonie entdeckt, so erfuhren die professionellen Taubenjäger im Nu davon und eilten hin. Die Kadaver wurden zu Millionen in Fässer gepackt und per Eisenbahn nach Chicago verfrachtet, nach New York und Boston.
Taubenfleisch als Massenware
Die Wandertaube fütterte Amerikas Arme durch. Ein Taubenpoulet kostete bloss Pennies. Mancherorts wurden mit den Kadavern gar die Löcher in den Strassen geflickt. Aber die Vögel galten trotzdem auch als Delikatesse und wurden in den besten Restaurants von New York serviert.
Der menschliche Appetit auf den häufigsten Vogel der Welt war grenzenlos. Noch um 1860 gab es vermutlich Milliarden von Wandertauben auf dem nordamerikanischen Kontinent. Vierzig Jahre später, 1902, wurde das letzte wild lebende Exemplar abgeschossen. 1914 folgte die einsame Martha im Zoo von Cincinnati als allerletzte ihren abgeschlachteten Artgenossen ins Nirwana.
Umweltschutz als Erbe einer Art
Das Schicksal der Wandertaube – und jenes der Büffel, die in derselben Periode ebenfalls zu Tausenden getötet worden waren – stärkte immerhin die damals in den USA entstehende Umweltbewegung. Kurz nach Marthas Tod erliess die Bundesregierung ihre ersten Naturschutzgesetze. Für Martha und ihre Verwandten kam diese Hilfe zu spät.