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Natur & Tiere Neun Millionen Bäumchen gegen die Gefahr vom Hang

Die fünf Wildbäche oberhalb von Brienz im Berner Oberland sind in der Vergangenheit immer wieder über die Ufer getreten und mit Murgängen ins Tal gedonnert. Noch 2005 kamen zwei Menschen ums Leben, acht Häuser wurden zerstört. Aufforstung soll dabei helfen – seit über 100 Jahren.

Als die Menschen vor über 600 Jahren begannen, die Steilhänge oberhalb von Brienz zu roden, war ihnen nicht bewusst, welche Hypothek sie den nachfolgenden Generationen aufbürdeten. Doch grössere Alpweiden fürs Vieh waren begehrt – und so holzte man den Wald am Brienzer Rothorn innert Jahrzehnten ab. Mit dramatischen Folgen: Die Weiden erodierten; die Bäche schossen bei Regen mit Geröll ungehindert ins Tal.

Aufforsten oder Aufgeben

Nach mehreren schweren Naturkatastrophen reagierte der Bundesrat anno 1896 – nach einer emotionalen Parlamentsdebatte, in der sogar zur Diskussion stand, die Dörfer im Tal aufzugeben. Stattdessen entschied der Bund, das damals grösste Aufforstungsprojekt der Schweiz in Angriff zu nehmen. Gerade noch rechtzeitig, wie Ueli Ryter, Forstingenieur der Abteilung Naturgefahren des Kantons Bern sagt: «Die Hänge wären heute erodiert, es wären nur noch nackte Felsen übrig. Bei Regen würde das Wasser mit Geschiebe ungehindert ins Tal fliessen und die Dörfer wären unbewohnbar.»

Der Kanton kaufte nach dem Entscheid nach und nach die Alpweiden auf und heuerte zusammen mit dem Bund Dutzende von italienischen Arbeitern an. Sie bauten Steinmauern und terrassierten die Hänge, um das lose Geschiebe zu stoppen und die Hänge zu stabilisieren.

Arbeiten fast wie damals

Heute ist die Arbeit fast die gleiche wie damals. Die Forstarbeiter, die von Montag bis Freitag am Berg arbeiten und übernachten, bauen Mauern und installieren sogenannte Ogi-Böcke. Das sind dreibeinige Holzkonstruktionen, unter denen junge Erlen und Föhren gepflanzt werden. Das Holz liefern junge Edelkastanien aus dem Tessin, die bei Forstarbeiten anfallen und sonst nicht verkauft werden können. Der Vorteil dieses Holzes: Es widersteht Wettereinflüssen unbehandelt bis zu 40 Jahren. Tannenholz würde gerade einmal vier bis fünf Jahre überdauern.

Die Schutzmassnahmen auf einer Höhe von 1300 bis 1900 Meter über Meer gleichen einer Sisyphus-Arbeit. Im Frühsommer werden die Schäden des letzten Winters repariert, Mauern wieder in Stand gestellt, umgeknickte Bäume ausgeholzt. Eine endlose Mühe? Forstingenieur Ryter bestreitet das: «Wenn man sich die Bilder der Hänge vor 100 Jahren anschaut und mit dem heutigen Zustand vergleicht, haben wir schon viel erreicht.»

Tatsächlich sind die Hänge heute an vielen Stellen mit Gebüsch oder Tannen überwachsen. Doch nicht überall: Die Erosion schreitet fort, wo Pflanzen den Boden nicht schützen. «Im Winter reissen die Gleitlawinen die Gräser und deren Wurzeln mit», erklärt Ueli Ryter.

Millionen Bäumchen und Mauersteine

Auf dem fast 700 Hektar grossen Gebiet wurden inzwischen 9 Millionen Bäumchen gepflanzt und 100‘000 Kubikmeter Mauern gebaut. Fast jeder Quadratmeter im Hang ist inzwischen bearbeitet. Bisher haben Bund, Kanton und Gemeinden 75 Millionen Franken investiert, damit die rund 4000 Menschen im Tal in ihren Dörfern bleiben können.

Der Berner Volkswirtschaftsdirektor Andreas Rickenbacher betont, dass sich die Investitionen lohnen würden. «Jeder hat ein Recht dort zu wohnen wo er aufgewachsen ist. Und die öffentliche Hand hat dafür zu sorgen, dass dies sicher ist.»

Gefahren und Risiken bleiben

Dennoch kam es 2005 zu einer weiteren Katastrophe. Nach tagelangem Regen entlud sich ein schweres Gewitter über dem Brienzer Rothorn. Ein Murgang bahnt sich seinen Weg durch Brienz, acht Häuser wurden zerstört. Zwei Frauen starben in ihrem Haus. «Dieses tragische Ereignis stellt die Aufforstung nicht in Frage», betont Ueli Ryter, «die Regenmengen waren absolut aussergewöhnlich. Die Aufforstung hat wahrscheinlich noch Schlimmeres verhindert.»

Dennoch, so Ryter, ist auch in Zukunft mit einem gewissen Risiko zu rechnen. Und für Förster Anton Ambühl, der schon sieben Jahre mit der Aufforstung am Brienzer Rothorn beschäftigt ist, steht fest: «Hier hat kurzfristiges Managerdenken überhaupt keinen Platz. Was wir hier machen, ist für die nächste und übernächste Generation.»

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