Wenn man sich das Ökosystem eines tropischen Korallenriffs als Sportteam vorstellt, so ist der Fledermausfisch nur Ersatzspieler – zumindest dachte die Wissenschaft dies bis jetzt. Denn der Fledermausfisch ist recht selten, und für jede seltene Tierart, so die Lehrbuchmeinung, gibt es eine häufigere Art, die die gleiche Aufgabe erfüllt, sagt Michel Kulbicki vom Korallenlabor im französischen Banyuls. Nur im unwahrscheinlichen Fall, dass der Stammspieler ausfällt – also ausstirbt –, müsste der Fledermausfisch eingewechselt werden.
Im Falle des Fledermausfischs stimmt diese Annahme aber nicht, wie Kulbicki und seine Forscherkollegen herausgefunden haben. Es gibt keine andere Art, die auf seiner Position spielen kann – obwohl sie zentral ist für das Ökosystem. Der Fledermausfisch weidet in den Korallenriffen des roten Meeres und des Indopazifiks die Algen von den Korallen. Würden diese Algen nicht im Zaum gehalten, überwucherten sie die Korallen und erstickten sie – das Ökosystem würde schwerwiegend verändert. Der seltene Fledermausfisch ist also ein bisher unerkannter Stammspieler.
Seltene Alpenpflanze mit wichtiger Rolle
Neben den Korallenriffen haben Kulbicki und seine Forscherkollegen auch in tropischen Wäldern und in den Alpen nach solchen unerkannten, seltenen Stammspielern gesucht: «Wir haben dabei herausgefunden: Seltene Arten haben vielfach ungewöhnliche Eigenschaften und sie übernehmen dadurch wohl oft eine spezifische Funktion im Ökosystem.»Eine wichtige Erkenntnis, findet der Ökologe Christoph Küffer von der ETH Zürich: «Wir wissen bereits, dass häufige Arten wichtig sind für die Ökosysteme. Von den seltenen Arten wissen wir viel weniger. Dieses Thema greift die Studie auf.»
In den Alpen liefert der Strauss-Steinbrech ein Beispiel für eine seltene Art mit wichtiger Funktion, erzählt Sebastien Lavergne von der Université Joseph Fourier in Grenoble: «Diese zähe Pflanze wächst in Felsspalten und bildet einen hohen Trieb, der dicht besetzt ist mit Blüten: hochwillkommene Nahrung für Insekten, die in dieser Extremregion sonst nur wenig zu Fressen finden.»
In Tropenwäldern gehört ein imposanter Baum namens Pouteria maxima zu den seltenen Arten. Sein mächtiger Stamm ist umgeben von einer dicken Rinde, die Blätter sind ledrig – ein zäher Geselle, gut gewappnet gegen Dürren. Heute sind das noch seltene Ereignisse in tropischen Regenwäldern. In Zukunft aber könnten sie häufiger werden, wenn sich das Klima weiter aufheizt. Und dann könnte Pouteria maxima dazu beitragen, dass der Regenwald auch in diesen wärmeren, trockeneren Zeiten überleben kann.
Ein neuer Blick auf die raren Arten
Seltene Arten mit speziellen Eigenschaften sind also auch so etwas wie eine Zukunftsversicherung, sagt Sebastien Lavergne. Dem müsse der Umweltschutz mehr Rechnung tragen: «Schutzkonzepte bauen oft auf ein buchhalterisches Fundament. Wenn man seltene Arten schützen will, dann mit dem Argument, möglichst keine Arten zu verlieren.» Sebastien Lavergnes Forschergruppe ruft nun dazu auf, die Funktion der Arten mehr in den Blick zu nehmen: Seltene Arten solle man vor allem auch deswegen erhalten, weil sie wichtige oder gar unersetzliche Funktionen für ihr Ökosystem erfüllen.
Wie wichtig durchdachte Schutzkonzepte sind, zeigt der Fall des algenfressenden Fledermausfischs, erzählt Michel Kulbicki: Als Forscher Gitterkäfige über Korallenriffe stülpten, um sie zu schützen, wurden die Riffe von Algen überwuchert. Dies darum, weil Fledermausfische etwas ausserhalb der Riffe leben und nur zum Essen dort erscheinen. Die gutgemeinten Käfige sperrten ausgerechnet jene Spezies aus, die das tödliche Algenwachstum hätten verhindern können. Ein eindrücklicher Beweis dafür, wie wichtig gerade seltene Arten sein können.