Wer aus Genf kommt, kennt Sherkan. Und wer Eishockey-Fan ist, sowieso. Vor jedem Heimspiel des Teams Genf-Servette gleitet der stolze Weisskopfseeadler mit seinen etwa 2,10 Metern Fügelspannweite durch das grölende Stadion in die Anstosszone – direkt auf den Lederhandschuh seines Falkners Jacques-Olivier Travers.
Sherkan ist das Maskottchen von Genf-Servette. Monatelang hat der Falkner mit ihm trainiert, damit der Adler durch vollbesetzte Stadien fliegt und sich weder von euphorischen Fans noch von grell flackernden Lichtern irritieren lässt. Travers hat seinen Adler zum Show-Star gemacht – und ist dabei auch selbst zum Star geworden.
Showbusiness
Der Franzose kann sich unendlich für Steinadler, Seeadler, Bartgeier, Bussarde begeistern. Er liebt ihren Stolz, ihre Eleganz und ihre Kraft. Doch viele der Greifvögel sind bedroht. Der Seeadler wurde in Frankreich und der Schweiz sogar ganz ausgerottet.
Jacques-Olivier Travers will diese Arten retten – und das Showbusiness hilft ihm dabei. «Sie wissen, wie die Welt funktioniert», sagt der Falkner am Telefon, «wenn ich meine Vögel an ein Hockey- oder Fussballmatch mitnehme, wenn ich mit ihnen Ski fahre und das Fernsehen dabei ist, dann schauen mit einem Schlag Millionen von Menschen zu.» So will er die Menschen für seine Sache gewinnen, sie sensibilisieren und zeigen: Greifvögel sind nicht gefährlich, wir können mit ihnen leben.
Travers brennt für die Vögel schon seit seiner Jugend. Sobald er sein Diplom in Jura und Journalismus in der Tasche hatte, liess er sich zum Falkner ausbilden. Mit 24 gründete er seinen Vogelpark «Les ailes de la liberté« in der Nähe von Genf. Heute ist es der grösste Park in Europa mit internationalem Renommee. 150 Greifvögel leben dort, rund 60 Arten sind vertreten. Doch die Seeadler liegen dem Parkgründer besonders am Herzen: «Als Junge habe ich einen Satz des Schweizer Ornithologen Paul Géroudet gelesen: Vor mir fliegt ein Seeadler, vielleicht weiss er es nicht, aber es kann sein, dass es der letzte seiner Art ist.» Dieser Satz habe ihn umgehauen.
Elternersatz
Etwa zwölf Greifvögel zieht Travers jedes Jahr gross. Viele gibt er in andere Parks. Der rege Austausch sorgt dafür, dass sich Pärchen finden und bedrohte Arten sich fortpflanzen können. Doch der grosse Traum von Jacques-Olivier Travers ist, die Vögel irgendwann in die Natur zu entlassen. Dafür müssen sie überleben können, sie müssen Fliegen und Jagen können. Normalerweise lernt ein Raubvogel das von seinen Eltern, jetzt heisst ihr Lehrmeister Jacques-Olivier Travers.
2006 gründete er dafür ein eigenes Projekt, «Wings of Freedom» . Zwei Jahre später landete er seinen grössten Coup, als er mit dem Gleitschirm den Mont Blanc überflog – im Geleit seinen Weisskopfseeadler Sherkan, der ihm folgte, wie er seinen Eltern gefolgt wäre.
«Vögeln das Fliegen beibringen, am Anfang hat mein Vorhaben keiner so richtig ernst genommen», erinnert sich Travers. Also wählte er den höchsten Punkt Europas und zeigte allen, dass es geht. Selbstverständlich waren Kameras dabei; eine hielt Travers, die andere war auf dem Adlerrücken festgeschnallt. Es sind Bilder, wie die Menschen sie lieben, und wie sie auf Youtube tausendfach geklickt werden (siehe Video unten). Für Travers war es der Durchbruch. Seitdem, sagt er, werde er auch von der Wissenschaft ernst genommen.
Knochenarbeit
Hinter diesem Erfolg steckt knochenharte und monatelange Arbeit. Als Travers den damals 12-jährigen Sherkan aus einem Gehege in Belgien abholte, konnte sich der Adler gerade mal zwei Meter weit durch die Luft schleppen. Eineinhalb Jahre lang trainierten die beiden, bis der Mont-Blanc-Flug möglich war. «Sherkan musste Muskeln aufbauen. Er musste lernen, mit dem Wind und der Thermik umzugehen. Ein Vogel, der in Gefangenschaft geboren wir, kennt das alles nicht».
Mittlerweile hat Travers zehn weiteren Vögeln das Fliegen beigebracht. Nicht alle sind so begabt wie Sherkan. Nur etwa jeder zweite würde es in der Natur schaffen, schätzt der Falkner. Er hofft, dass er in etwa drei Jahren das erste Seeadler-Pärchen in die Freiheit entlassen kann. Es sollte ein erwachsenes Pärchen sein, das schon einmal eine Brut gehabt hat, damit sie sich direkt im ersten Jahr in Freiheit fortpflanzen können und auch wissen, wie das geht. Es ist ein gewagtes Projekt. Ob es funktionieren wird, weiss auch Travers nicht. «Aber wenn, können Sie sicher sein, dass die Medien davon hören werden», verspricht er lachend.
Botschafter
Sherkan wird die Freiheit nicht erleben. Er will auch nicht wirklich: «Il ne me quitte pas – er kann keine zehn Minuten ohne mich sein», sagt Travers. Der Adler ist sein enger Begleiter, mit ihm hat er seine Methode entwickelt. Nun ist Travers eine Art Familie für das Tier geworden. «Heute halte ich grössere Distanz, weil die Vögel sonst nicht mehr in die Natur zurückkehren können», sagt er selbstkritisch, «aber bei ihm und auch bei dem anderen Sherkan bin ich zu weit gegangen».
Dem anderen Sherkan? «Wissen Sie, es gibt zwei. Der eine fliegt über den Mont Blanc, der andere durch die Stadien». Sie waren seine ersten Seeadler und er hat ihnen den gleichen Namen gegeben. Damals habe er noch nicht gewusst, dass sie zu Stars werden würden. Heute zeigt es sich wohl als ganz praktisch, dass sie gleich heissen, sie sind seine besten Botschafter für die Rettung bedrohter Greifvögel.
Schweizer Meister
Stadion-Sherkan, das 15-jährige Genfer Maskottchen, wird also weiter vor jedem Heimspiel durch das Stadion von Genf-Servette gleiten. «Ich habe dem Club gesagt, dass er noch so lange fliegen wird, bis sie Schweizer Meister sind, ich hoffe, dieses Jahr klappt es – er macht das nun schon seit 13 Jahren!» Wir drücken die Daumen. Doch für den Club ist noch Zeit. So ein Adler kann im Vogelpark gediegene 50 Jahre alt werden.