Hunderte von Möwen sitzen an einem Strand im Norden Chiles. Bei jeder Welle, die der Pazifik an Land wirft, fliegen ein paar Tiere auf.
Sie haben schwarze Augen, schwarze Beine und einen weissen Kopf. Ihr Körper geht vom Weiss langsam ins Dunkel-Grau über, fast ins Schwarze. Elegante Vögel.
«Das sind Graumöwen», sagt Roberto Aguilar. Der Biologe ist Direktor der Stiftung Cultam, die sich für Naturschutz einsetzt. Graumöwen sind in Chile so häufig wie bei uns die Lachmöwen.
Kleine Tiere, grosse Fragen
Das Spezielle an der Graumöwe: Sie brütet mitten in der Wüste. Die Graumöwe ist nicht die einzige Art, die das macht. Weit draussen, sagt Aguilar und zeigt hinaus aufs Meer, lebe eine kleine Sturmschwalbe.
Der Kragenwellenläufer: Erst vor Kurzem ist es chilenischen Ornithologen geglückt, das Rätsel zu lösen, wo diese Vögel nisten. «Kein Wunder, hat es so lange gedauert», lächelt Aguilar.
Denn die Kragenwellenläufer brüten an einem völlig unerwarteten Ort: in Felsspalten oder Höhlen mitten in der Wüste.
Brüten bei brütender Hitze
Aguilar selber beschäftigt sich mit dem anderen Wüstenbrüter: der Graumöwe. Mit dem Auto fährt er 100 Kilometer in die Atacama-Wüste zu den Brutplätzen. Hier will er zeigen, was das heisst, mitten in der Wüste Vogelküken aufzuziehen.
Es ist Mittag, die Luft flimmert, ein steter Wind geht. Roberto Aguilar beugt sich zu einer kleinen Sandkuhle herunter. «Das scheint ein neues Nest zu sein», sagt er.
Nur ganz fein sieht man die Abdrücke der Graumöwenfüsse im Sand. Die Brutsaison beginnt erst. «Wenn der eine Elternteil brütet, ist der andere an der Küste, um sich zu ernähren», sagt Aguilar.
Jobsharing
In der Nacht fliegt die vollgefressene Möwe die 100 Kilometer von der Küste zum Nest – und löst die andere beim Brüten ab. Sind die Küken dann geschlüpft und eine Woche alt, bleiben beide Elternteile tagsüber weg und bringen erst wieder in der Nacht kurz Futter vorbei.
Die Temperaturunterschiede in der Wüste sind gross: In der Nacht ist es 5 bis 10 Grad, am Tag bis zu 50 Grad. Die Küken drohen zu vertrocknen. Aber bei jedem Nest liegt ein etwa 15 Zentimeter hoher Stein.
Stein und Sein
«Dieser Stein spielt eine extrem wichtige Rolle», sagt Aguilar. Denn im Schatten dieses Steins schützt sich das allein gelassene Küken vor der intensiven Sonnenstrahlung.
Warum die Vögel sich und ihre Küken dieser Extremsituation aussetzen, ist nicht geklärt. Die Forscher vermuten: So können sie der Konkurrenz an der Küste durch andere Möwenarten entkommen – oder Fressfeinden.
Bedrohte Brutplätze
Aber die Brutplätze der Graumöwen und auch die der Kragenwellenläufer sind bedroht. Bergbaufirmen – sie bilden Chiles wirtschaftliche Rückgrat – bauen hier Kupfer, Silber, Lithium und weitere Mineralien ab.
Es gebe kaum einen Quadratzentimeter Land, auf dem nicht irgendeine Firma bald baggern und bohren wolle, sagt Aguilar.
Auf Spanisch heisst Wüste «el desierto». Aber «desierto» heisst auch «verlassen». Dass die Wüste kein verlassener Ort sei, realisierten die meisten Leute erst nach und nach, sagt Aguilar. Er will dafür kämpfen, dass die Wüsten-Brutplätze der chilenischen Wasservögel erhalten bleiben.
Sendung: Radio SRF 2 Kultur, Wissenschaftsmagazin, 12.1.2019, 12.40 Uhr