Der Rothirsch galt lange Zeit als scheues Wildtier, das sich nur in abgelegenen Gebieten der Alpen wohlfühlt. Doch seit einigen Jahren dringen Hirsche immer stärker ins dicht besiedelte Flachland vor – inklusive Anpassung an den Menschen.
Wie gut diese Anpassung funktioniert, zeigen die Daten von vier Rothirschen, die eine Forschungsgruppe der ZHAW im Kanton Zürich mit Sendern ausgestattet hat. «Ein männlicher Hirsch, den wir im Winter im Sihlwald besendert haben, ist von da aus in den Kanton Zug und dann über den Aargau bis nach Luzern gewandert», erklärt Stefan Suter vom Forschungsprojekt «Rothirsch im Schweizer Mittelland».
Wildtierwarnanlagen
Der Hirsch namens Dario habe stark befahrene Strassen überquert und sich auch öfters in unmittelbarer Dorfnähe aufgehalten. Tagsüber versteckt in kleinen Waldstücken, nachts auf offener Wiese zum Grasen.
Im Naturwald willkommen
Ein zweites Tier hingegen, die Hirschkuh Amanda, sei seit der Besenderung immer im gleichen Gebiet geblieben. Der Sihlwald, ein 12 km² grosser, zusammenhängender Buchenwald, steht unter Naturschutz. Die Rothirsche, die hier seit rund fünfzehn Jahren langsam häufiger werden, sind als ursprünglich heimische Tierart eine Bereicherung.
Der Rothirsch bringt Dynamik in den Wald und Dynamik bedeutet in der Natur immer auch eine Zunahme der Biodiversität.
So beeinflussen die grossen Pflanzenfresser beispielsweise massgebend die Pflanzenzusammensetzung, indem sie Lichtungen offenhalten und so Raum für lichtliebende Pflanzenarten schaffen. Auch graben sie an feuchten Stellen sogenannte Suhlen, um dort im Schlamm zu baden. So entstehen Wasserstellen, die wiederum Vögeln oder Eichhörnchen zum Baden und Trinken dienen.
Herausforderungen in der Kulturlandschaft
Weniger gross als im weitläufigen Naturwald ist die Freude in den Wirtschaftswäldern, wo der Rothirsch den Förstern ins Handwerk pfuscht. Im Winter schälen die hungrigen Tiere Rinde von den Bäumen und im Sommer schlagen die Stiere ihre Geweihe gegen junge Bäumchen, um sie von der abgestorbenen Haut, dem Bast, zu befreien. Beides macht die Bäume für die Holzwirtschaft unbrauchbar.
Auch im Offenland sind Rothirsche nicht gerne gesehen, denn dort fressen sie den Bauern das Gras weg und zertrampeln deren Felder.
Lebensgefährlich für Autofahrer kann es werden, wenn Hirsche Strassen überqueren. «Ein ausgewachsener Stier kann bis zu 200 kg wiegen», sagt Stefan Suter. «Das ist etwas anderes, als wenn man ein Reh oder einen Fuchs überfährt». Umso wichtiger sei die rasche Umsetzung von Massnahmen entlang von Wildtierkorridoren wie Temporeduktionen und das Errichten von Wildtierwarnanlagen an viel befahrenen Strassen.
Hirsche bald auch in den Städten?
Das gute Futterangebot auf nährstoffreichen Wiesen und die im Vergleich zu den Alpen milden Winter lassen die Rothirschbestände im Mittelland viel schneller anwachsen als in den Berggebieten. Diesem Wachstum wirkt eine teils starke Bejagung entgegen, doch «die Jagd kann die Entwicklung vorerst nur bremsen, nicht aber stoppen».
Und das sei auch gut so, sagt Suter, denn «der Rothirsch ist historisch eine Tierart des Mittellands, und er trägt hier zu einer gesunden und vielfältigen Natur bei».
Dass Hirsche problemlos auch in nächster Nähe des Menschen zurechtkommen, zeigen die Beobachtungen der vergangenen Jahre. Nun gelte es laut Stefan Suter, sich auf die langfristige Rückkehr des Rothirschs vorzubereiten, um mögliche Konflikte von vorneherein zu entschärfen.