Die Linth-Ebene am Zürichsee ist dicht besiedelt – eine typische Agglomeration. Hier kümmert sich der Schwyzer Wildhüter Steven Diethelm um Füchse, Dachse und andere Wildtiere. Auch ländliche Gebiete, abgelegene Wälder und Bergregionen gehören zu seinem Revier.
Die Landschaft hat sich seit Diethelms Kindheit stark verändert. Auch das Verhalten der Tiere: «Als Bub konnte ich Rehe nachmittags und abends beim Äsen beobachten», sagt der 47-Jährige. «Heute machen sie das immer öfter in der Nacht.»
Kein seltenes Phänomen
Die Rehe sind scheuer geworden. Sie verstecken sich in der Dunkelheit und sind eher nachtaktiv. Sieht man sie tagsüber, scheinen sie auf der Hut. «Sie stehen ständig unter Spannung», sagt Diethelm. «Nähert man sich ihnen, verschwinden sie in den Wald.»
Was Diethelm im Kanton Schwyz beobachtet, ist kein seltenes Phänomen. Die Umweltwissenschaftlerin Kaitlyn Gaynor von der University of California hat untersucht, wie sehr sich menschliche Einflüsse auf die Nachtaktivität von Wildtieren auswirken. Die Studie ist im Fachmagazin «Science» erschienen.
Der Hauptbefund: «Rund um den Globus weichen immer mehr Wildtiere in die Nacht aus, weil sie sich von den Menschen gestört fühlen», sagt Gaynor.
Nachtaktiver Sonnenbär
Das Phänomen sei praktisch überall gleich: bei Fleisch- und Pflanzenfressern, unabhängig davon, ob die Tiere im Wald, in der Savanne oder in Bergregionen wohnen.
Zum Beispiel der Malaienbär, auch Sonnenbär genannt. Er lebt in Südostasien und ist ein typisch tagaktives Tier. «Er liebt die Sonne», sagt Gaynor. Doch im Wald der Insel Sumatra seien Sonnenbären mittlerweile zu 90 Prozent nachtaktiv.
Was hat das für Folgen? Für tagaktive Tiere nicht nur vorteilhafte, sagt Gaynor. Bei den Sonnenbären etwa sei unklar, ob sie im Dunkeln genügend Futter finden, ihren Feinden ausweichen oder gut miteinander kommunizieren können. Das kann langfristig ihre Überlebenschancen schmälern.
Anderseits kommen viele Wildtiere in der Nacht erstaunlich gut zurecht. «Dank dem Nachtleben können sie sich in Landschaften behaupten, die eigentlich von Menschen dominiert sind», sagt Gaynor.
Das gilt etwa für den nepalesischen Tiger. Im Chitwan National Park in Nepal leben Raubtiere und Menschen in einer friedlichen Koexistenz. Sie bewegen sich im Wald auf denselben Pfaden, aber zu unterschiedlichen Zeiten. Der Mensch am Tag, der Tiger nachts.
Doch das kommt nicht nur im wilden Dschungel vor. Auch in unseren Landschaften haben sich die Wildtiere gut arrangiert, sagt der Wildtierbiologe Darius Weber. «Wir haben in der Schweiz ungefähr 300’000 wildlebende, grosse Huftiere, die sich in unserer Kulturlandschaft hervorragend behaupten.»
Tiere und ihre Traditionen
Dass sie dies gemäss der «Science»-Studie mit zunehmender Nachtaktivität schaffen, ist für Weber nicht überraschend. Er sieht darin die enorme Fähigkeit von Säugetieren und Vögeln sich anzupassen – an eine Umwelt, die sich ständig verändert.
Möglich sei diese Leistung, weil Tiere ihre Fähigkeiten nicht nur genetisch, sondern auch über Traditionen vermitteln: «Die Jungtiere lernen von den Eltern, wann man wo sein sollte – und wo nicht.»
Tiere könnten auch einschätzen, wann von Menschen Gefahr ausgeht. «Ein Fussgänger – vor allem mit Hund – ist für ein Reh immer bedrohlich, weil es in ihm einen Jäger sieht. Einen Biker dagegen nimmt es als harmlos wahr», erklärt Weber.
Vorsicht – auch im Dunkeln
Trotzdem seien Wildtiere nie sicher. Sie würden ständig neu herausgefordert, sagt der Biologe. «In letzter Zeit geschieht dies vor allem durch menschliche Freizeitaktivitäten, die sich zunehmend in die Nacht verlagern: Joggen, Biken, den Hund ausführen – wir treffen nachts im Wald immer mehr Menschen mit Stirnlampen an», sagt Weber.
Für die Tiere ist dies ein Problem, weil sie ja nicht zurück in den Tag ausweichen können. Auch nicht die Wildschweine, die nachts regelrecht unter Beschuss geraten. «Seit Wildschweine auch nachts bejagt werden, sind die Tiere nun auch im Dunkeln viel vorsichtiger, als sie es vor 20, 30 Jahren waren.»
Auch das nachtaktive Leben ist also nicht ungefährlich. Wenn der Mensch keine Rücksicht nimmt, finden Wildtiere irgendwann gar keine Ruhe mehr.