Die Bürokratie: Dass Christoph Marthaler nicht schon früher darauf gekommen ist? Seine Figuren waren in ihrem Innersten immer schon Bürokraten, kleinbürgerliche Trauerspieler, Abwartmenschen. Beamte des Lebens – gefangen in zwanghaften Wiederholungsschlaufen und schlecht geschnittenen Zweireihern.
Ein Traum von Raum
Im aufgelassenen Gemeindehaus von Birsfelden finden die Marthaler-Menschen ein passendes Biotop, das ideale für sie. Räume, die den Bürogeist der 1960er- und 1970er-Jahre atmen.
Unvermutet schimmert da eine vertäfelte Kassettendecke im Betonklotz, als ob wir uns in einem alpinen Palazzo befänden. In einem langgezogenen Wartesaal überraschen einzementierte Pflanzenkübel, als ob es ein baumbepflanzter Boulevard wäre.
Das Haus ist ein architektonischer Fund – wie Christoph Marthaler sie liebt und immer wieder für das Theater nutzbar macht. Sei es im Basler Badischen Bahnhof oder in der Zürcher Schiffbauhalle, die er auch einst entdeckte und die heute für das Schauspielhaus als Spielstätte unverzichtbar ist.
Das Elend namens Entfremdung
In Gruppen wird das Publikum durch diese Räume geführt, in denen es überall etwas zu entdecken gibt: einen Beamten im Dornröschenschlaf, eine rhythmisch zischende Kaffeemaschine, einen eifrigen Archivar am Rotomaten, diesem rotierenden Aktenschubladenmonster. Beunruhigende Lautsprecherdurchsagen künden die Lieferung von Betäubungsmitteln an oder legen ganz unverhohlen die Höhe von Bestechungsgeldern fest.
In einem Büro hängt ein ausgewachsener Hirsch inklusive kapitales Geweih, in einem andern müffeln noch die Konfetti und halbleeren Sektflaschen einer vermutlich nicht sehr heiteren Geburtstagsparty vor sich hin. Immer klemmt hier was oder verpasst wer wen, und in den traurigen, endlos wiederholten Selbstzweckhandlungen erweist sich dann auch das ganze Unglück eines verwalteten Lebens. Seine Entfremdung.
«Abteilung Leben»: Das klingt ja, als ob sich das Leben so penibel regeln liesse wie zum Beispiel Steuern oder Hundehaltergesuche. Oder der Aufenthalt von Flüchtlingen – auch das ist eine Thematik, die an diesem Abend aufklingt.
Die Hoffnung ist längst gestorben
Er mutet insgesamt zynischer an, noch bitterer und böser, als wir es von Marthaler kennen. Wenn alle zum Beispiel mit aller Deutlichkeit festhalten: «Ich mag Verantwortung nicht. Ich mach zwar alles, aber ich bin nicht schuldig.» Das trifft eine bürokratische Mentalität doch sehr präzis. Aus den traurigen Spiessern sind Wutbürger geworden.
Sofern sich etwas bewegt, geschieht es in Zeitlupe und vorzugsweise zyklisch. Nur in der Musik geht manchmal ein Fenster auf: in eine andere, sinnvollere Welt. Auch das bringt dieser Marthaler-Abend zur Geltung, in bitterer Schönheit: mit Stücken aus Schuberts «Schöner Müllerin» und Wagners «Siegfried», die näher betrachtet allerdings wenig Hoffnung zulassen.
Wagners Mime ist ein kleinlicher Underdog, Schuberts Müllergesell ein übergriffiger Loser. Ein deprimierendes Fazit. Und ein Schluss, der keiner ist: Das Publikum wird aufgefordert, die Räume wieder zu verlassen, und das war’s auch schon. Kein Applaus, kein Vorhang, kein Finale. Aber so ist die Bürokratie: Auch sie nimmt bekanntlich kein Ende.