Auf der Bühne herrscht Eiszeit, sie präsentiert sich leer und dunkel. Ohne reich geschmückten Weihnachtsbaum mit der Familie drumherum und dazwischen die beiden Kinder Marie und Fritz.
Bevor der Dirigent Thomas Herzog den Taktstock zur Ouvertüre von Piotr I. Tschaikowkis Musik hebt, knackt es unheimlich aus den Lautsprechern. Unverkennbar die Geräusche alter Dielen als Hinweis auf die Zeitlosigkeit, auf die Verbindung zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Ebenso zeitlos glänzt ein Sternenhimmel über der Bühne, eine Projektion von Philipp Contag-Lada, die sich im Verlauf des Stücks zusammen mit dem Licht langsam verändert – bis hin zu den ersten Schneeflocken.
Wie auf einer gefrorenen Fläche bewegen sich die Tänzerinnen des Balletts Basel, in der typischen choreografischen Handschrift ihres Chefs, in sehr präzisen, unheimlich schnellen, stakkatohaften Bewegungen. Dabei ist der ganze Körper, bis hin zu den Gesichtsmuskeln, in Bewegung. Die Tänzer reissen die Augen und Münder auf, und manchmal kullern auch Sätze und Wörter aus ihnen. Oft wirken die Figuren wie aus einem Comic, und man kann sich einen Lacher nicht verkneifen.
Grosses Gewusel
Der Choreograf Marco Goecke hat in seiner Interpretation frei auf das Kunstmärchen «Nussknacker und Mäusekönig» von E.T.A. Hoffmann zurückgegriffen. In der Welt der Romantik verschmelzen Wirklichkeit und Träume, wie bei den Geschwistern Marie und Fritz. Puppen wie Mäuse werden lebendig, tanzen, vergnügen sich und manipulieren sich und andere.
Ganz verschiedene, oft surreal wirkende Figuren wirbeln durcheinander, sodass man als Zuschauerin bald einmal den Überblick verliert und sich fragt, wer denn jetzt den Patenonkel Drosselmeier verkörpere.
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Bild 1 von 3. Die Inszenierung von Marco Goecke präsentiert sich hochdynamisch. Im Bild: Rachelle Anaïs Scott und Elliana Mannella. Bildquelle: Theater Basel/Gregory Batardon.
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Bild 2 von 3. Er besinnt sich auf die literarische Vorlage E.T.A. Hoffmanns zurück, die in der ursprünglichen Ballettvorlage arg weichgespült worden war. Im Bild: Sandra Bourdais, Michelangelo Chelucci, Louis Steinmetz. Bildquelle: Rahi Rezvani.
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Bild 3 von 3. Die gähnend leere Bühne wirkt erstmal schlicht, doch der aussergewöhnlich ausdrucksstarke Einsatz von Mimik macht das allemal wett. Im Bild: Jamal Uhlmann, Sandra Bourdais. Bildquelle: Theater Basel/Rahi Rezvani .
In diesem Gewusel verliert sich zusehends die Handlung, die man zu kennen meinte. Wenn Fritz einem anderen Mann körperlich nahe kommt und in ihm auf einmal unbekannte homoerotische Gefühle aufkeimen, dann mögen Motive aus dem Leben des schwulen Komponisten Tschaikowski anklingen. Auch Marie entdeckt auf der Schwelle zum Erwachsenwerden neue Gefühle und küsst einen Mann. In diesem Stück scheint alles im Fluss und in permanenter Veränderung zu sein.
Smarter Nussknacker
Im zweiten Akt des «Nussknackers», dem sogenannten Divertissement mit seinen verschiedenen nationalen Tänzen, weitet sich die Perspektive und gewinnt die Handlung an Stringenz. Als der Nussknacker, das besondere Geschenk Drosselmeiers an seine Lieblingsnichte Marie, kaputtgeht, steht ihr, wie herbeigezaubert, ein zweiter zur Verfügung. Hat der Mechanismus des alten noch bedenklich geknarrt, scheint der neue smarter.
Mit ihm tanzt sie ein heroisches, berückendes Duo, und es scheint fast so, als könnten die beiden mit diesem Tanz alle Gefahren bannen. Es liest sich wie ein Credo: andere Zeiten brauchen neue, griffige Werkzeuge! Jedenfalls ein witziger Kunstgriff des Choreografen!
Beim Schlussapplaus hörte man keine Buhs, nur grosse Begeisterung. Mag sein, dass sich ein Grossteil des Publikums nicht um die Klarheit der Handlung schert. Was man – zu Recht – beklatscht hat, sind eine fabelhafte Choreografie, eine grossartige tänzerische Leistung sowie ein geschmeidiger, vielfältiger Orchesterklang.