- Bertolt Brecht arbeitete am Theater der Zukunft und rückte die Schauspieler ins Zentrum.
- Das Arbeitsmaterial der Schauspieler sind bei Brechts Theateridee ihre eigenen Biografien, Erfahrungen und Körper.
- Das Giessen-Institut steht in der Brech-Tradition und prägt das Gegenwartstheater mit Performance, Happening und Tanz.
Brecht nervt – auch etwas mehr als 60 Jahre nach seinem Tod. Zumindest der Brecht, den man aus der Schule und mittelmässigen Stadttheaterinszenierungen kennt.
Dort begegnet man einem Autor, der einen nicht zum Selberdenken bringt, sondern gerade davon abhält: Ein Klassiker fürs Theatermuseum, eine Schlaftablette für dröge Schulstunden. Zu weit weg und zugleich zu einfach wirken Brechts Botschaften in unserer komplexen Gegenwart.
Es gibt jedoch mehr als nur einen Brecht. «Der Brecht des Expressionismus ist nicht der Brecht der Neuen Sachlichkeit, ist auch nicht jener, der den Marxismus rezipiert», sagt der Theater- und Literaturwissenschaftler Hans-Thies Lehmann.
«Der Brecht der Widersprüche»
Lehman ist einer der profiliertesten Brecht-Kenner. Er hat gerade ein neues Buch veröffentlicht. «Brecht lesen» heisst es und versammelt Lehmanns Lektüren von Brechts Gedichten und Stücken.
Er ist auf der Suche nach einem anderen Brecht: «Einem Brecht der Widersprüche, der hinter scheinbar klaren Thesen immer wieder einen Abgrund aufmacht. Und der sich – überspitzt ausgedrückt – nie mit seinen eigenen Positionen identifiziert», wie es Lehmann formuliert.
Kein graues Belehrtheater
«Das kontinuierliche Ich ist eine Mythe», hat Brecht selbst einmal erklärt. Von ihm gibt es also mehrere, viele. Der vielleicht interessanteste Brecht arbeitete von 1927 und 1932 an einem Theater der Zukunft: mit der Lehrstück-Theorie.
Sie darf nicht als graues Belehrtheater missverstanden werden, das dem Zuschauer etwas aufs Auge und Ohr drücken will. Das ist oft der Fall, wenn Stücke von Brecht gespielt werden.
«Spielen für sich selber»
Brechts Lehrstück-Theorie steht vielmehr für ein Theater, das den Schauspieler selbst in den Mittelpunkt rückt: Er soll beim Spielen eine Erfahrung machen und so etwas lernen, was er noch nicht wusste oder kannte.
«Spielen für sich selber» ist die kürzeste Formel dieser Theateridee, die bis ins Hier und Heute Kraft entfalten kann: Sie steht am Anfang des Gegenwartstheaters mit dem Institut für Angewandte Theaterwissenschaft in Giessen, das 1982 von den Brecht-Forschern Andrzej Wirth und Hans-Thies Lehmann gegründet wurde.
Befreiung aus dem engen Korsett
Giessen gilt heute als Kaderschmiede des Performer-Theaters. Hier erhielten so unterschiedliche Künstler wie René Pollesch oder Gruppen wie das deutsch-schweizerische Kollektiv «Rimini Protokoll» ihre Ausbildung.
Giessen steht für eine Öffnung des Theaters – hin zur Performance, zum Happening, zum Tanz und anderen freien Formen. Und zugleich für eine Bewegung weg vom herkömmlichen Dramentheater, das die Schauspieler in das enge Korsett einer Figur oder einer Geschichte zwängt.
Selbst ist das Material
Diese Öffnung des Theaters wäre nicht möglich gewesen ohne Brechts Lehrstück-Theorie: In Giessen stehen keine ausgebildeten Schauspieler auf der Bühne, dafür die Studenten selbst. Sie verstehen ihre eigenen Biografien, Erfahrungen und Körper als Material.
In den Stücken machen sie ihre eigenen Perspektiven auf die Wirklichkeit stark. Sie verstehen sich nicht als Schauspieler, dafür als Performer, als Agenten in eigener Sache.
«Das haben wir nicht für euch gemacht», heisst es am Ende von René Polleschs «Kill Your Darlings!». Das Stück wird seit fünf Jahren vor ausverkauften Rängen an der Berliner Volksbühne gespielt und kann als bisher stärkstes Stück der Giessener Brecht-Tradition gelten.
Wirkung auf der Bühne
In «Kill Your Darlings!» wird der Schauspieler zu einem Delegierten des Publikums. Er zeigt uns, wie er sich von dem entlastet und befreit, was in unserer komplexen Wirklichkeit reguliert oder gar nicht zu leben ist.
Dabei wird nicht in übergriffiger Weise behauptet, dass die Lösungen und Methoden der Performer auch für die Zuschauer Gültigkeit haben. Aber ganz sicher haben sie eine Wirkung für die Spieler auf der Bühne, die sich an Brechts Formel für die Lehrtücke orientieren: «Spielen für sich selber».