- Das Theaterfestival «Golden Mask» in Moskau ist das russische Pendent zum Schweizer und Berliner Theatertreffen .
- Auffällig: Unter den bemerkenswerten Inszenierungen des letzten Jahres sind viele Klassiker .
- Die politische Lage der Gegenwart findet sich nur indirekt auf der Bühne – viele Russen sehen Kunst und Politik als getrennte Sphären .
Tschechow im Leopardenlook
Bei der Geburtstagsparty in der neureichen Datscha wird ordentlich Wodka getankt. Man trägt schicke Cocktailkleider oder Klamotten im Leopardenlook.
Es ist ein Stück von Anton Tschechow, das hier unter der Regie von Timofei Kulyabin im Moskauer Theater der Nationen aufgeführt wird: «Iwanow». Aber das Personal wirkt überhaupt nicht wie aus dem vorletzten Jahrhundert.
Keine Frage: Tschechow hat Konjunktur auf den russischen Bühnen. Gern, wie hier, inszenatorisch upgedatet für die Gegenwart. Aber auch Autoren wie Tolstoi oder Dostojewski sind stark vertreten im «Russischen Showcase», einer Spezialsektion des jährlich in Moskau stattfindenden Theaterfestivals «Goldene Maske».
Zombies, Geiste und tote Körper
Der Showcase erinnert an das Berliner oder das Schweizer Theatertreffen. Er präsentiert die bemerkenswerten russischen Inszenierungen der Theatersaison.
Anders als in Deutschland oder der Schweiz wird die Auswahl allerdings nicht von einer mehrköpfigen Jury getroffen. Sondern einzelne Theaterkritiker oder Kritiker-Duos kuratieren das Programm. Und in selbigem spielt nicht nur die Nationalliteratur eine grosse Rolle, sondern auch die Landesgeschichte.
«Das russische Gegenwartstheater ist besessen von der Vergangenheit», bestätigen die diesjährigen Kuratorinnen Alyona Karas und Kristina Matvienko. Zombies, Geister und tote Körper seien zurzeit an der Tagesordnung auf den Bühnen.
Sowjetische Pflichtlektüre
Viele Regisseure werfen beispielsweise einen Blick zurück auf die Diktaturen des 20. Jahrhunderts, auf Faschismus und Stalinismus. Über historische Parallelen und Analogien versuchen sie, sich auch den neuralgischen Punkten der Gegenwart zu nähern. Dass die aktuelle Lage direkt thematisiert wird, passiert dagegen seltener.
So wie in der Aufführung «Die junge Garde»: Sie erzählt vom historisch verbrieften Kampf einer jugendlichen Partisanengruppe gegen die Wehrmacht während der deutschen Okkupation 1942. Der sowjetische Schriftsteller Alexander Fadejew hat diese geschichtlichen Fakten 1945 zu einem Propagandaroman verarbeitet, der in der Sowjetunion Schulpflichtlektüre war.
«Macht Kunst, nicht Politik!»
Die Inszenierung – eine Zusammenarbeit der Regisseure Maxim Didenko und Dmitri Jegorov – untersucht nun nicht nur dieses Spannungsfeld zwischen Realität und Propaganda. Sondern sie zieht auch Parallelen zur heutigen Jugend.
In einer Szene fragt der Hauptdarsteller die Zuschauer, was Widerstand eigentlich unter gegenwärtigen Umständen bedeuten würde. Und ob die Menschen, die zum Beispiel Ende März 2017 in vielen russischen Städten gegen Korruption demonstriert hatten und teilweise verhaftet worden waren, Helden oder Opfer seien?
Das Publikum reagiert leidenschaftlich – und gemischt. Ein älterer Mann schimpft, der heutigen Jugend ginge es nur noch ums Materielle. Eine junge Frau ermahnt die Theaterleute, sie sollten bitte beim Bühnengeschehen bleiben und Kunst und Politik nicht vermischen.
Angst vor Schwierigkeiten
Das ist durchaus keine Einzelmeinung. Selbst Maxim Didenko, der Regisseur der «Jungen Garde», sagt im Gespräch, er hätte kein Interesse zu provozieren. Sein Geschäft sei die Kunst, nicht die Propaganda. Er wolle Konflikte aufzeigen, ohne sich dabei auf eine bestimmte Seite zu stellen.
Das hat teilweise tatsächlich mit einem tradierten Kulturverständnis zu tun, wonach Kunst tiefer geht als Tagespolitik. Zum anderen spielt natürlich auch die Angst vor politischen Schwierigkeiten eine zentrale Rolle.
Darüber wird in Moskau erstaunlich offen gesprochen. «Niemand will Probleme bekommen», sagt Didenko.
Sendung: Radio SRF 2 Kultur, Kontext, 20.04.2017, 09:03 Uhr