«Da bin ich», sagt Doris Uhlich. Ohne Kleidung, die langen schwarzen Haare um den Oberkörper gehüllt, betritt sie einen Saal des kunsthistorischen Museums in Wien. Nackt betrachtet sie das Gemälde einer nackten Frau. Es sind vor allem Akte von Georg Baselitz, die in der von ihm kuratierten Ausstellung «Nackte Meister» zu sehen sind.
Und Uhlich? Sie ist hier, um zu arbeiten. Im Rahmen der Wiener Festwochen 2023 gibt sie eine Führung durch die Baselitz-Ausstellung.
In einem der prunkvollen Räume hat sich die Performancekünstlerin vor der über zwei Meter grossen Holzskulptur «Frau Paganismus» aufgerichtet. Baselitz hat die Figur mit einer Motorsäge hergestellt. «Ich versuche, wie eine Kettensäge durch den Raum zu jagen und meinen Körper umzuschichten», sagt Uhlich.
Dann lässt sich die Tänzerin abrupt nach vorne hängen. Ihre Haare kopfüber, beginnt sie, ihren Körper zu schütteln. Jede Stelle, jede Falte, jedes Härchen scheint zu vibrieren. Mit der Hand schlägt sie sich auf den Oberschenkel – ein Geräusch, das nachdrücklich durch den fast leeren Saal hallt.
Selbstermächtigung statt Scham
«Der nackte Körper spricht eine eigene Sprache und ist gefüllt mit Energie und Bewegung», sagt Uhlich in einer Probenpause. Nacktheit macht auch einen grossen Teil ihres Oeuvres aus.
Abseits der grossen Bühnen des Kulturfestivals Wiener Festwochen bieten in diesem Jahr Künstlerinnen und Künstler persönliche Führungen an. Als die Festivalleitung die 46-Jährige fragte, ob sie eine solche Führung übernehmen würde, war schnell klar, mit welcher Arbeit sie sich auseinandersetzen wird.
In der Ausstellung «Nackte Meister» reagiert der deutsche Künstler Georg Baselitz mit seinen Akten, die ausnahmslos ihn und seine Frau Elke zeigen, auf Werke der Gemäldegalerie. Das Thema Nacktheit verbindet alle Bilder. Baselitz interessiert dabei «der Akt als menschlicher Elementarzustand», heisst es im Ausstellungskatalog.
«Nacktheit ist unser Urzustand»
Auch Uhlich meint: «Nacktheit ist unser Urzustand.» Nackt wurde der Körper jedoch erst, als er bedeckt wurde. Erst mit dem Tragen von Kleidung wurde laut der Historikerin Victoria Bateman Nacktheit erotisch und potenziell schändlich.
«Vor etwa 4000 Jahren fiel im Mittelmeerraum und im Nahen Osten ein Schleier der Sittsamkeit über die Körper der Frauen», sagt Bateman, «Seitdem schwanken wir als Gesellschaft hin und her. Immer, wenn wir eine Periode relativer körperlicher Freiheit hatten, folgte ein hartes Durchgreifen gegen den Körper der Frauen.»
Hier sind Männer die nackten Meister, und ich als nackte Meisterin bringe mal ein bisschen Unordnung hinein
Victoria Bateman möchte keinen «Bescheidenheitstest» bestehen, und auch Doris Uhlich stellt sich patriarchalen Erwartungen entgegen: «Hier sind Männer die nackten Meister, und ich als nackte Meisterin bringe mal ein bisschen Unordnung hinein», sagt sie und grinst.
Die Choreografin fixiert die Bilder, wirft sich vor sie hin, sie schwitzt, ihre Managerin reicht eine Wasserflasche. Man könnte meinen, sie hält dem «male gaze», dem männlich sexualisierten Blick, stand. Nach der Probe verrät sie, dass sie sich dabei «lebendig, aufgewühlt und mit Geschichten verbunden» fühlte.
Nackte Haut als wirkungsvolles Mittel der Kunst
Nicht alle wollen sich intim zeigen. «Das erste Kostüm», wie Uhlich den nackten Körper auch nennt, ist für viele Menschen mit Scham behaftet. Vor allem die Geschlechtsorgane und die weibliche Brust lernen wir zu bedecken.
Das erscheint widersprüchlich: Denn in Filmen, in den sozialen Medien und auf Porno-Plattformen – überall begegnen uns nackte Körper. Trotzdem gibt es eine Tendenz, sich zu bedecken.
In hochrangigen Institutionen gelten oftmals besonders strenge Dresscodes. Diese Erfahrung hat auch Victoria Bateman gemacht. «Ich wurde im Glauben erzogen, dass man als Frau seinen Körper bedecken muss, um respektiert zu werden», sagt sie. Sie hat nun ihre ganz eigene Protestform gefunden. Vorträge und Interviews hält sie nackt.
In ihrem Buch «Naked Feminist» stellt die Ökonomin die These auf, dass in unserer Gesellschaft der Glaube vorherrscht, bedeckte Frauen erführen weniger Belästigung und Missbrauch. Es gebe deswegen eine Rückkehr zum Puritanismus. Sichtbar vor allem in den USA.
«Es gibt eine wachsende Bewegung, die junge Frauen dazu ermutigt, ein Jungfräulichkeitsgelübde abzulegen.», sagt Bakeman: «Wir sehen Keuschheitsbälle in Amerika. In der Schule und in Diskotheken werden die Mädchen aufgefordert, Ponchos zu tragen, um ihr Dekolleté zu bedecken.»
Der nackte Körper ist ein «politischer Körper»
Zurück zur Performance-Probe von Uhlich: In ihren Choreografien sind Körper oft jenseits der Norm zu sehen. Dadurch stellt die Künstlerin nicht nur Körperideale des klassischen Balletts einem anderen Denkansatz entgegen. Der nackte Körper ist für sie immer auch ein «politischer Motor».
Die Tänzerin entwickelte eigens den Fetttanz, mit dem sie bekannt wurde. «Jeder Körper hat die Möglichkeit, sich auszuziehen, in Bewegung zu geraten und schön zu sein.» Uhlich geht es um eine «Empathie für das Anderssein». Nacktheit bedeutet für sie nicht nur Verletzlichkeit, sondern auch ein Empowerment, zum eigenen Körper zu stehen.
Oben ohne – Hals über Kopf
Gegen Ende der Probe erscheinen drei weitere Tänzer und Tänzerinnen. Ebenfalls nackt, positionieren sie sich vor Baselitz’ Akten, die wie so oft kopfüber angebracht sind. Davon inspiriert, stemmen sich zwei Tänzerinnen in einen Kopfstand, während der Dritte sich zwischen den beiden ein paar Mal überschlägt. Klatschend, robbend, kriechend, kraulend bewegen sie sich anschliessend über den Parkettboden.
Eine Tänzerin trägt Knieschoner. Obwohl Profis am Werk sind, wird man als Betrachter den Gedanken nicht los: «Schmerzt das nicht?» Uhlich denkt Verletzlichkeit gross: «Jeder Mensch ist verletzlich – nackt oder angezogen», sagt sie. «Haut ist für mich eine durchlässige Textur, und wir lassen viel Welt hinein und viel Welt wieder hinaus.»
Ich fühle mich viel selbstbewusster und schamloser, und niemand kann mich beschämen.
Auch Bateman fühlt sich durch ihr nacktes Auftreten auf Konferenzen und Vorlesungen freier als zuvor. «Obwohl ich viel Missbrauch erlebe, fühle ich mich gleichzeitig viel selbstbewusster und schamloser, und dann kann mich niemand beschämen.»
«Wie ein Mensch Nacktheit empfindet, hat auch viel damit zu tun, wie mit Nacktheit in der eigenen Kultur und dem eigenen Elternhaus umgegangen wird», meint Uhlich. Für sie sei es letztlich eine persönliche Entscheidung, wie frei man mit Nacktheit umgehe und wie frei man über nackte Menschen denke.