Eine Frauenstimme erzählt aus ihrem Leben: Wie die Mutter Fleischverkäuferin auf dem Markt war, wie sie selbst gern Metzgerin werden wollte und wie sie sich mit 15 entschloss, aus Nigeria nach Italien zu migrieren. Die Bilder dazu sind gemalt, gezeichnet, gepinselt, gekritzelt.
Wir schauen dabei zu, wie sie direkt entstehen, wie aus einfachen Pinselstrichen ein Gesicht wird, eine junge Frau, die sich vor unseren Augen in eine grosse Kuh mit langen Hörnern verwandelt. Wir sehen, wie die junge Frau aus sanften Pinselstrichen in hellen Farben gemalt ist, während die bedrohlichen Figuren, denen sie auf ihrem Weg begegnet, mit schwarzem Kugelschreiber gekritzelt sind.
«Das könnte sogar ein Mädchen!»
Das kann nur Animationsfilm: so unmittelbar Bilder und Emotionen verbinden, eine Geschichte gleichzeitig zu interpretieren und illustrieren.
Der beschriebene Film heisst «Meatseller», er ist 17 Minuten lang und Teil der Fokusreihe «9 to 5» – ein Spezialprogramm am Fantoche, das sich dem Thema Arbeit widmet. In drei Kurzfilmprogrammen, zwei Langfilmen und einer Ausstellung wird das Thema aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchtet.
«Meatseller» ist im Programm «Even a girl could do it: Stories of Labour, Live and Survival». Zu Deutsch: «Das könnte sogar ein Mädchen: Geschichten über Arbeit, Leben und Überleben».
Reale Geschichten in animierten Bildern
Die Filme darin beleuchten das Thema Arbeit aus feministischer Perspektive – und zwar sehr international. Der besprochene «Meatseller» ist ein italienischer Film, der von einer nigerianischen Frau erzählt. Andere Filme erzählen von einer taiwanesischen Grossmutter, einer slowenischen Urgrosstante, von zwei Kindern in einer brasilianischen Favela, von einer französischen Kriegsreporterin in Syrien. Das Besondere an diesen Filmen ist: Sie sind sogenannte «Anidoks».
Reale Geschichten, oft auch mit einer originalen Tonspur, werden mit den Mitteln des Animationsfilms erzählt. Nicht alle sind gezeichnet und gemalt wie «Meatseller». Der englische Film «Wild Summon» zum Beispiel benutzt Realfilm und Computeranimation. Die Stimme der Sängerin und Schauspielerin Marianne Faithfull erzählt im Stil der Tierdokumentationen von David Attenborough den Lebenszyklus eines Lachsweibchens.
Gezeigt werden aber in einem wunderschönen wilden Fluss irgendwo in Schottland oder Irland statt der Lachse wunderliche, vermenschlichte Wasserwesen mit Taucherhelm und Flossen an den Füssen. Durch diese Vermenschlichung wird die Distanz, die wir zu Fischen und deren Schicksal haben, überwunden. Das beschwerliche und gefährliche Leben der Lachsweibchen viel besser nachvollziehbar.
Keine Grenzen für formale Gestaltung
Dass in den Programmen die Kurzfilme im Vergleich zu den Filmen in Kinolänge überwiegen, hat einen einfachen Grund: Es ist ungleich viel aufwändiger, 90 Minuten Animationsfilm herzustellen, als 90 Minuten Realfilm.
So vielseitig die Thematiken in diesem Festival-Fokus «9 to 5» am Fantoche sind, so vielseitig sind die Filme. Formal gibt es im Animationsfilm praktisch keine Grenzen, fast alles ist möglich, ob nun von Hand gezeichnet, mit Puppen dargestellt, geknetet, als Stop-Motion-Collage oder computeranimiert. Und neu in diesem Jahr: Der Gewinnerfilm des internationalen Wettbewerbs kann sich für die Oscars qualifizieren.