Richard Dindo, 1997 ist ihr Dokumentarfilm «Grüningers Fall» in die Kinos gekommen. Was hat Sie an Polizeihauptmann Paul Grüninger interessiert?
Richard Dindo: In meinen politischen Filmen ging es immer um Menschen, die ungerecht behandelt wurden. Diese Menschen, die bis anhin nie angehört wurden, erhalten das Wort. Ich lasse sie ihre Version der Geschichte erzählen. Ich hole sie, die totgeschwiegen wurden, aus dem Schatten hervor. Es ist eine Art Geschichtsschreibung von unten.
Paul Grüninger war eine jener Personen in der Schweiz, die ungerecht behandelt und jahrzehntelang nicht rehabilitiert wurden. 1940 wurde er wegen Amtspflichtverletzung und Urkundenfälschung verurteilt. Dabei hatte er Menschen das Leben gerettet. Mein Film hat dazu beigetragen, dass er endlich rehabilitiert wurde.
Ebenfalls zu Wort kommen im Film jene Menschen, die ihm ihr Leben verdanken. Ihre Meinung zu Grüninger, ihre Dankbarkeit dafür, dass er ihr Leben rettete, interessierte die Behörden damals nicht. Die jüdischen Flüchtlinge wurden auch während dem Prozess vom St. Galler Bezirksgericht nie als Zeugen vorgeladen und angehört.
Ihr Film berührt, gerade auch, weil diese Zeitzeugen zu Wort kommen – die jüdischen Flüchtlinge, Fluchthelfer, Polizisten, der Leiter des Flüchtlingslagers in Diepoldsau, die Tochter von Paul Grüninger, Ruth Roduner-Grüninger. War es schwierig, diese Zeitzeugen zu finden?
Richard Dindo: Der Autor des Buches «Grüningers Fall», Stefan Keller, hat die wichtigste Arbeit geleistet. Ich konnte mich auf sein Buch und seine Informationen abstützen. Er hat die Zeitzeugen gefunden und er hat mit ihnen gesprochen. Er gab mir ihre Namen und Adressen, sodass ich sie einladen konnte. Da kommen Frauen und Männer aus den USA, aus Österreich, aus der Schweiz und reden über einen Mann, der ihr Leben gerettet hat. Das war natürlich sehr berührend, für sie selber, auch für uns und die Zuschauer.
Beiträge zum Thema
Sie haben den Film im Gerichtssaal des Bezirksgerichts St. Gallen gefilmt, wo Paul Grüninger 1940 verurteilt wurde. Warum haben Sie gerade an diesem Ort gefilmt?
Richard Dindo: Es ist sehr bewegend im Gerichtssaal zu sitzen, wo Paul Grüninger damals sass und verurteilt wurde. Dieses Zurückgehen an den tatsächlichen Schauplatz gehört zur Darstellung der Vergangenheit und zur Logik der Erinnerung.
Wenn man einen Film über vergangene Ereignisse macht, gibt es nur drei Möglichkeiten: Zeitzeugen interviewen (wenn diese nicht mehr leben, können Schauspielerinnen und Schauspieler diese Rolle übernehmen), den realen Schauplatz oder Filme, Fotos und Dokumente zeigen. Damit lässt sich die Vergangenheit im Dokumentarfilm rekonstruieren.
1970 hat das Schweizer Fernsehen eine Reportage über Paul Grüninger ausgestrahlt. Der Reporter liess den damals noch lebenden Grüninger zu Wort kommen. Das war ein Glücksfall für meinen Film und ergab eine wunderbare Situation: Die jüdischen Flüchtlinge und die anderen Zeitzeugen begegneten im Gerichtssaal noch einmal Grüninger. Wir zeigten ihnen die Bilder von Grüninger auf einer Leinwand und filmten sie dabei, wie sie ihren Lebensretter wiedersehen. Dank diesen Bildern des Schweizer Fernsehens wurde Grüninger während einigen Augenblicken wieder zum Leben erweckt.
War es schwierig, die Zeitzeugen zum Reden zu bringen?
Richard Dindo: Für die jüdischen Flüchtlinge war es eine emotionale und schöne Erfahrung, an den Ort der Rettung zurückzukommen und über Grüninger zu sprechen. Ich lasse in meinen Filmen nur Leute zu Wort kommen, die Lust und einen bestimmten Grund haben zum Reden. Ich bin immer auf der Seite der Menschen, die ich filme.
Der Dokumentarfilm «Grüningers Fall» lief 1997 im Kino. Löste er Reaktionen aus?
Richard Dindo: Mein Film wurde vom Schweizer Fernsehen mitfinanziert und mehrmals ausgestrahlt (lange und kürzere Version). Im Fernsehen sahen ihn über 700'000 Zuschauerinnen und Zuschauer, im Kino rund 10'000. Wenn man wissen will, ob der Schweizer Film relevant und notwendig ist, dann sollte man endlich alle Schweizer und Schweizerinnen zählen, die unsere Filme anschauen, sowohl die in den Kinos wie auch im Fernsehen.