Nur am Gang erkennt er ihn wieder. Vahid hat den Mann, der ihn im Gefängnis gequält hat, nie gesehen. Aber der schlurfende Gang verrät den Mann mit dem Holzbein sofort.
Vahid verfolgt ihn, überwältigt ihn, wirft ihn in einen Transporter. Er will den Mann töten. Als er das Grab bereits ausgehoben hat, überkommen ihn doch noch Zweifel: Ist das wirklich sein Peiniger? Soll er wirklich Rache an ihm nehmen?
Gefängnis und Berufsverbot
Regisseur Jafar Panahi sass selbst mehrmals in einem iranischen Gefängnis. Der Iraner wurde unter anderem wegen «Propaganda gegen das System» verurteilt. Zwei Mal trat er in Hungerstreik, beide Male kam er frei. Zudem wurden ein Berufs- und Ausreiseverbot ausgesprochen.
Trotzdem filmt Panahi weiter und verlässt auch immer wieder das Land. An europäischen Filmfestivals ist er ein gern gesehener Gast: In Cannes, Venedig und Berlin wurde er bereits ausgezeichnet. Mit seinem neusten Film «It Was Just an Accident», der nun in die Schweizer Kinos kommt, gewann er in Cannes die Goldene Palme.
Rache oder Vergeben?
Mit diesem Film verarbeitet der 65-Jährige seine eigene Zeit im Gefängnis. Vahid will herausfinden, ob der gefesselte Mann in seinem Transporter wirklich der ist, der ihn damals im Gefängnis verhört hat. Dazu sucht er verschiedene Menschen auf, die damals mit ihm im Gefängnis waren. Unter ihnen entbrennt eine hitzige Debatte zur Frage, was mit dem Täter geschehen soll.
«Das ist eigentlich kein Film für die Gegenwart», sagt Panahi im Interview. Solche Filme mache man normalerweise erst, nachdem ein Regime gestürzt wurde und es um Aufarbeitung gehe: «Es ist ein Film für die Zukunft, für die Zeit nach der islamischen Republik.» Panahi ist es wichtig, schon jetzt darüber nachzudenken, was einst mit den Machthabern von heute geschehen soll.
Versteckte Dreharbeiten
Wie all seine jüngsten Filme hat Jafar Panahi auch «It Was Just an Accident» heimlich im Iran gedreht. Dieses Mal auch mitten in Teheran, auf offener Strasse: «Ich bin mittlerweile ein richtiger Experte darin, heimlich zu drehen», sagt Panahi. Anfangs habe er nur in Wohnungen gedreht, für «Taxi Teheran» dann im Auto. Nun drehe er auch im Freien: «Wir wissen inzwischen, wie man eine Kamera aufstellen und die Crew positionieren muss, um keine Aufmerksamkeit zu erregen.»
Es ist beeindruckend, mit welchem Mut Panahi und seine Crew weiter Filme drehen. Der Regisseur selbst will von Mut aber nichts wissen: «Im Iran sehen sie ständig Menschen, besonders Frauen, die sich über Verbote hinwegsetzen. Trotz aller Warnungen nehmen sie Tag für Tag ihre Kopftücher ab, gehen auf die Strasse, leben ihr Leben. Das ist Mut. Ich hingegen mache einfach meine Arbeit.»
Mit Humor gegen das Grauen
Für «It Was Just an Accident» hat Panahi ein prächtiges Ensemble aus Laien und Berufsschauspielern versammelt. Trotz der ernsten Thematik und der grossen ethischen Fragen ist es ein unterhaltsames Werk, das immer wieder einen feinen Humor versprüht.
«Das liegt in unserer Kultur», sagt Panahi: «Sie können im Iran jederzeit auf die Strasse oder den Basar gehen, und nach fünf Minuten erzählen Ihnen die Leute Witze, bei denen Sie sich vor Lachen krümmen.» Selbst dem Schrecklichen begegnet man im Iran oft mit Humor. Auch deshalb schafft es «It Was Just an Accident», optimistisch in die Zukunft zu blicken.
Kinostart: 30.10.2025