Lord Doyle ist ein «Untergeher». Ein Spieler, gestrandet in der chinesischen Casinometropole Macau. «I’m a high roller on a slippery slope», sagt er gleich zu Beginn aus dem Off, in einem gefakten britischen Akzent. Zu Deutsch etwa: «Ich bin ein Zocker auf dünnem Eis».
Schon in den ersten Szenen taumelt er, vollkommen betrunken, durch seine Luxussuite mit Panoramablick – ein Mann, der dem Abgrund kaum noch entkommen kann. Doch die Fassade hält noch einmal stand: Er findet einen letzten Batzen Geld, den er sofort verspielen wird.
Sobald er sich in seinen grünen Samtanzug zwängt und die billigen, gelben Lederhandschuhe überstreift, verwandelt sich der irische Hochstapler Reilly erneut in den Pseudo-Aristokraten Lord Doyle.
Gambler-Hölle von Macau
Edward Bergers neuer Film «Ballad of a Small Player» beginnt verheissungsvoll. Nach seinen Welterfolgen «Im Westen nichts Neues» und «Konklave» wollte Berger eine Art «Pop-Oper» erschaffen. «More is more», erklärte er beim Zürich Film Festival. Und tatsächlich: Alles flackert, leuchtet, spiegelt sich.
«Macau ist wie ‹Blade Runner in echt›», sagt Berger – und der Film liefert die passenden Bilder. Die Stadt wird selbst zum Protagonisten, Rolltreppen in die Untergeschosse der Casinos werden als Pforten in die Gambler-Hölle inszeniert.
Ein Schwindler auf Sinnsuche
Colin Farrell spielt Lord Doyle grossartig. Wie schon Pádraic in «Banshees of Inisherin» und dem «Penguin», im gleichnamigen Batman-Spin-Off verleiht er auch Doyle eine eindrucksvolle Tragikomik. Wenn er wie ein Tier über Hummer und Kaviar herfällt, teuren Champagner in sich hineinkippt und in seinen verwüsteten Hotelzimmern erwacht. Ein Drink noch, ein Teller noch, ein Spiel noch.
Wir leiden mit, wenn Doyle nach seinen Exzessen erwacht; wenn er die Baccara-Karten umdreht, auf die er gefühlt seine ganze Existenz gesetzt hat.
Doch ganz leer ist Doyle noch nicht. Irgendwo glimmt noch ein letzter Funke Hoffnung. Genau das interessiert Filmemacher Berger: «Ich fand die Idee eines Schwindlers spannend, der nach sich selbst sucht, nach einem tieferen Sinn», erzählt er im Interview mit SRF.
Glamour ohne Gefühle
Vielleicht kann die mysteriöse Casinomitarbeiterin Dao Ming (Fala Chen) da helfen. «You’re a lost soul», gibt sie Doyle zu verstehen; «du bist eine verlorene Seele». Mit diesem ganz schön klischeehaften Satz beginnt eine weitere Storyline. Dao Ming verführt den ertrinkenden Lord als eine Art spirituelle Muse dazu, doch auch mal nach innen zu schauen. Die Geschichte führt in ein anderes Macau, voller Geister und Tempel.
Am Ende stellt sich die Frage, ob all das nicht nur Einbildung war, ein «Fiebertraum», wie sich alles nennen lässt, was ein bisschen rauschhaft daherkommt. Vieles bleibt unverständlich, die Frau als Heilsbringerin für den abstürzenden Mann, der nach Erlösung sucht, ist pures Klischee.
Was als hoffnungsvoller Twist gemeint ist, bleibt letztlich recht dünn. Edward Berger erzählt in Zürich, er wolle das einfangen, was der Protagonist in jenen Momenten empfinde. Das gelingt auch eindrucksvoll, doch der Glamour, das Überladene hat sich schnell erzählt und die grossen Gefühle bleiben trotz – oder vielleicht gerade wegen – der opernhaften Inszenierung aus.
«Ballad of a Small Player» läuft ab 30. Oktober auf Netflix.