Am 4. November 1950 unterzeichneten 13 Staats- und Regierungschefs in Rom die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK), eine der wichtigsten Vereinbarungen der europäischen Nachkriegsgeschichte. Bis heute sind der Konvention 46 Staaten beigetreten.
Gerade einmal fünf Jahre lag der Krieg damals zurück. «Die schrecklichen Ereignisse während des Zweiten Weltkriegs, insbesondere der Holocaust an den Juden, Sinti und Roma, bestärkten die Staaten in Europa darin, dass nie wieder solche schweren Menschenrechtsverletzungen geschehen sollten», sagt Helen Keller, Professorin für Europa- und Völkerrecht an der Universität Zürich.
Die Einigkeit der Staaten bröckelte mit dem Kalten Krieg allerdings bald: «Man sieht das an der EMRK darin, dass sie nur die klassischen Grundrechte enthält – Recht auf Leben, Meinungsäusserungsfreiheit und so weiter, dass aber die wirtschaftlichen, sozialen und politischen Rechte nicht darin enthalten sind.»
Diese stehen im ersten Zusatzprotokoll zur EMRK, das die Schweiz bis heute nicht ratifiziert hat, etwa das Recht auf Eigentum, auf Bildung und auf freie, geheime Wahlen. Die Schweiz befürchtet(e) Konflikte mit ihren eigenen Gesetzen, etwa bei der Raumplanung und der Steuerpolitik. Und Landsgemeinden sind keine geheimen Wahlen.
Das beste Menschenrechtssystem
Mit der EMRK hätten die europäischen Staaten «das beste Menschenrechtssystem auf der Welt geschaffen», stellt Helen Keller fest, griffiger als Entsprechungen auf anderen Kontinenten. «Nirgendwo sind die Menschenreche systemisch so stark wie in Europa.»
Dies liege am Europäischen Gerichtshof, der die Zusammenarbeit mit den nationalen Gerichten stetig ausgebaut und konsolidiert habe, und an der «robusten Kontrolle der Umsetzung der Urteile im Ministerkomitee».
Direkter Einfluss der EMRK auf Gesetze
Der Einfluss der EMRK auf die Gesetzgebung sei in der Schweiz besonders stark institutionalisiert, hält Helen Keller fest. Denn bei jedem neuen Erlass prüfe der Bundesrat in seiner Botschaft, ob dieser grundrechtskonform sei. Die Rechtssprechung des EGMR spiele dabei «eine ganz prominente Rolle».
In einer Zeit, in der sich liberale Demokratien zu illiberalen Staaten entwickeln, sei die EMRK besonders wichtig, sagt die Völkerrechtlerin: «Die EMRK und der Europarat wurden genau dazu geschaffen, dass der EGMR und der Europarat frühzeitig die Alarmglocken läuten können, wenn sich antidemokratische Tendenzen zeigen. Aber die Gesellschaften müssen diese Alarmglocken auch hören.» Allein könne weder der Gerichtshof noch der Europarat die Gesellschaften vor diesen Tendenzen schützen.
75 Jahre europäische Menschenrechte
Hat die Europäische Menschenrechtskonvention in den 75 Jahren ihres Bestehens die Hoffnungen erfüllt? Helen Keller sagt, die Menschenrechte zu garantieren, sei nie ein abgeschlossener Prozess, ständig stellten sich neue Herausforderungen, etwa im Bereich der Künstlichen Intelligenz.
Aber: «Den Menschen in Europa geht es dank der EMRK, dank der Rechtsprechung des EGMR sicher besser als ohne. Und wenn es die EMRK und den EGMR nicht gäbe, müsste man sie gleich erfinden.»