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75 Jahre EMRK EMRK-Bilanz: «Das beste Menschenrechtssystem auf der Welt»

Vor 75 Jahren unterzeichneten europäische Staaten die Europäische Menschenrechtskonvention. Sie reagierten damit auf die Gräueltaten des Zweiten Weltkriegs und schufen ein verbindliches System zum Schutz individueller Rechte. Die EMRK gilt als Fundament der europäischen Rechtsgemeinschaft.

Am 4. November 1950 unterzeichneten 13 Staats- und Regierungschefs in Rom die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK), eine der wichtigsten Vereinbarungen der europäischen Nachkriegsgeschichte. Bis heute sind der Konvention 46 Staaten beigetreten.

Gerade einmal fünf Jahre lag der Krieg damals zurück. «Die schrecklichen Ereignisse während des Zweiten Weltkriegs, insbesondere der Holocaust an den Juden, Sinti und Roma, bestärkten die Staaten in Europa darin, dass nie wieder solche schweren Menschenrechtsverletzungen geschehen sollten», sagt Helen Keller, Professorin für Europa- und Völkerrecht an der Universität Zürich.

Helen Keller am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte
Legende: Helen Keller war von 2011 bis 2020 Richterin am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Strassburg. KEYSTONE/SARAH ENNEMOSER

Die Einigkeit der Staaten bröckelte mit dem Kalten Krieg allerdings bald: «Man sieht das an der EMRK darin, dass sie nur die klassischen Grundrechte enthält – Recht auf Leben, Meinungsäusserungsfreiheit und so weiter, dass aber die wirtschaftlichen, sozialen und politischen Rechte nicht darin enthalten sind.»

Diese stehen im ersten Zusatzprotokoll zur EMRK, das die Schweiz bis heute nicht ratifiziert hat, etwa das Recht auf Eigentum, auf Bildung und auf freie, geheime Wahlen. Die Schweiz befürchtet(e) Konflikte mit ihren eigenen Gesetzen, etwa bei der Raumplanung und der Steuerpolitik. Und Landsgemeinden sind keine geheimen Wahlen.

Das beste Menschenrechtssystem

Mit der EMRK hätten die europäischen Staaten «das beste Menschenrechtssystem auf der Welt geschaffen», stellt Helen Keller fest, griffiger als Entsprechungen auf anderen Kontinenten. «Nirgendwo sind die Menschenreche systemisch so stark wie in Europa.»

Was genau ist die EMRK?

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Anders als ihre Wegbereiterin, die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der UNO von 1948, ist die EMRK ein verbindlicher Vertrag. Die Staaten haben sich dazu verpflichtet, die Menschenrechte einzuhalten und durchzusetzen, die sie den Individuen garantieren.

Zu diesem Zweck haben die Unterzeichnerstaaten durch die EMRK den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Strassburg eingerichtet. Bei diesem können Menschen Klage einreichen, wenn sie sich in ihren Rechten verletzt sehen. Der EGMR kann fehlbare Staaten verurteilen.

Dieses Gericht sei ein wirksames Instrument, sagt Helen Keller: «Sehr häufig beeinflussen Urteile des EGMR auch die Gesetzgebung in anderen Ländern.» Urteile des EGMR hätten eine Signalfunktion.

Als Beispiel nennt sie einen britischen Fall von 2002 mit Schweizer Bezug, «Goodwin gegen das Vereinigte Königreich». Einer der zwei Entscheide in diesem Verfahren betraf den Quellenschutz von Journalistinnen und Journalisten. Wegen des Urteils des EGMR ist das Schweizer Strafgesetzbuch geändert worden.

Text der EMRK: Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) | Fedlex

Dies liege am Europäischen Gerichtshof, der die Zusammenarbeit mit den nationalen Gerichten stetig ausgebaut und konsolidiert habe, und an der «robusten Kontrolle der Umsetzung der Urteile im Ministerkomitee».

Direkter Einfluss der EMRK auf Gesetze

Der Einfluss der EMRK auf die Gesetzgebung sei in der Schweiz besonders stark institutionalisiert, hält Helen Keller fest. Denn bei jedem neuen Erlass prüfe der Bundesrat in seiner Botschaft, ob dieser grundrechtskonform sei. Die Rechtssprechung des EGMR spiele dabei «eine ganz prominente Rolle».

Graues Gebäude, drei zylinderartige Körper: Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte
Legende: Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) ist ein 1959 gegründeter internationaler Gerichtshof. Er entscheidet über Einzel- oder Staatsanträge, die Verstösse gegen zivile und politische Rechte, die in der Europäischen Menschenrechtskonvention verankert sind, geltend machen. KEYSTONE/CHRISTIAN BEUTLER

In einer Zeit, in der sich liberale Demokratien zu illiberalen Staaten entwickeln, sei die EMRK besonders wichtig, sagt die Völkerrechtlerin: «Die EMRK und der Europarat wurden genau dazu geschaffen, dass der EGMR und der Europarat frühzeitig die Alarmglocken läuten können, wenn sich antidemokratische Tendenzen zeigen. Aber die Gesellschaften müssen diese Alarmglocken auch hören.» Allein könne weder der Gerichtshof noch der Europarat die Gesellschaften vor diesen Tendenzen schützen.

75 Jahre europäische Menschenrechte

Hat die Europäische Menschenrechtskonvention in den 75 Jahren ihres Bestehens die Hoffnungen erfüllt? Helen Keller sagt, die Menschenrechte zu garantieren, sei nie ein abgeschlossener Prozess, ständig stellten sich neue Herausforderungen, etwa im Bereich der Künstlichen Intelligenz.

Aber: «Den Menschen in Europa geht es dank der EMRK, dank der Rechtsprechung des EGMR sicher besser als ohne. Und wenn es die EMRK und den EGMR nicht gäbe, müsste man sie gleich erfinden.»

Radio SRF 2 Kultur, Kultur-Aktualität, 4.11.2025, 7:06 Uhr ; 

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