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Aufgewachsen in einer Diktatur Lea Ypi: «Wahre Freiheit braucht eine freie Gesellschaft»

Unsere westlichen Gesellschaften versprechen individuelle Freiheit, bringen aber gesellschaftlich immer wieder auch Unfreiheiten hervor. Die Philosophin Lea Ypi über Freiheit zwischen den politischen Systemen.

Die Welten von Lea Ypi könnten unterschiedlicher nicht sein. Ihr Heimatland Albanien war während ihrer Kindheit eine stalinistische Diktatur. Heute lebt die 42-jährige Philosophin in London, einem Zentrum der liberalen Marktwirtschaft.

Wie Ypi zwischen diesen beiden Welten erwachsen geworden ist, erzählt ihre Autobiografie «Frei. Erwachsenwerden am Ende der Geschichte». Die aussergewöhnliche Lebensgeschichte hat ihr das Rüstzeug gegeben, zu einer der prominentesten politischen Philosophinnen im englischsprachigen Raum zu werden.

Über die Philosophin Lea Ypi

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Die albanische Philosophin Lea Ypi lehrt Politische Theorie an der renommierten London School of Economics. Sie wurde 1979 in Albanien geboren, das damals vom stalinistischen Diktator Enver Hoxha und seiner sozialistischen Partei eisern regiert wurde.

Sie studierte in Italien und absolvierte Forschungsaufenthalte rund um die Welt. Heute ist Ypi eine gewichtige Stimme in der politischen Philosophie im englischsprachigen Raum und gehört zu einer jüngeren Generation von Professorinnen, die die etablierte Philosophie aufmischt.

Traum der Freiheit

Als Kind hätte Ypi sich nicht träumen können, unfrei zu sein. Immerhin verlauteten ihre Eltern, die Lehrer und der Fernseher unisono, Albanien sei das freiste Land der Welt. Im Land des stalinistischen Diktators Enver Hoxha gehörte es zur bürgerlichen Pflicht, sich frei zu fühlen.

Doch 1990 nahmen die Proteste zu. Das Regime verlor die Kontrolle und Ypi war kein Kind mehr. Der Duft der Freiheit lag in der Luft und die Jugendliche sehnte sich mit der breiten Bevölkerung nach einem Systemwechsel.

Ein philosophisches Erwachen

Ypis Jugend wurde zu einem philosophischen Erwachen. Albanien vollzog den Übergang vom Kommunismus zum Kapitalismus. Zeitgleich wurde Ypi vom Kind zur Jugendlichen, die die Überzeugungen und Regeln ihrer Eltern radikal infrage stellte.

Vor diesem Hintergrund brachen all ihre Gewissheiten in sich zusammen. Was ihr gerade noch als unumstösslich wahr galt, erlag kurz darauf dem Zweifel.

Moralische Freiheit im Innern

In diesen turbulenten Zeiten fand Ypi Halt bei ihrer Grossmutter. Diese lobte die innere Freiheit, die jeder Mensch stets besitze und die selbst eine totalitäre Diktatur nicht vernichten könne.

«Erst die Moral, dann das Fressen», kehrte die Grossmutter das berühmte Diktum von Bertolt Brecht um. So diskutierte sie auch während der Diktatur mit ihrem Umfeld über Politik, wenn auch in Codewörtern.

Das Freiheitsverständnis von Ypis Grossmutter ähnelte jenem des Philosophen Immanuel Kant, ohne dass sie das wusste. Denn auch Kant betonte die moralische Freiheit, die jeder Mensch selbst unter den widrigsten Bedingungen besitze.

Enttäuscht vom Liberalismus

Doch so greifbar die Freiheit während des Systemwechsels auch schien, so schnell platzte der Traum auch wieder. Albanien war fortan zwar keine Diktatur mehr, doch die Freiheitsversprechen des westlichen Liberalismus wurden nur teilweise eingelöst.

Zum Beispiel durften Albanerinnen und Albanern ihr Land verlassen, doch kaum ein Land war bereit sie aufzunehmen. Auch durften sich die Menschen den Job selbst aussuchen, doch es gab kaum Arbeit im Land.

So verstand die jugendliche Ypi, dass man niemals nur für sich allein frei sein kann. Es reicht nicht aus, nur frei von Herrschaft zu sein. Für Freiheit sind wir stets auch auf eine freie Gesellschaft angewiesen.

Buchhinweis

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Lea Ypis Autobiografie «Frei. Erwachsenwerden am Ende der Geschichte» ist im Suhrkamp Verlag erschienen und wurde bereits mehrfach ausgezeichnet.

Freiheit zwischen Kant und Marx

Um also Kants Gedanken einer inneren, moralischen Freiheit realisieren zu können, will Ypi auch eine gesellschaftliche Freiheit denken. Dafür greift sie überraschend auf Karl Marx zurück, den Vordenker des Kommunismus – trotz ihrer Vergangenheit im realsozialistischen Albanien.

Für Freiheit brauche es immer beides: Eine individuelle Freiheit, wie Immanuel Kant sie verstand, und eine kollektive Freiheit, wie Karl Marx sie im Blick hatte. Unsere gegenwärtigen westlichen Gesellschaften versprechen für Ypi glaubhaft individuelle Freiheit, bringen aber gesellschaftlich immer wieder auch massive Unfreiheiten hervor.

SRF 1, Sternstunde Philosophie, 27.03.2022, 11:00 Uhr

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