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Essay zur Impfpflicht Wo liegen die Grenzen der individuellen Freiheit?

Globalisierung, Klimawandel, Pandemie: Freiheit ist längst keine Privatsache mehr und hängt immer mit Verantwortung zusammen. Doch wann schlägt sie in Bevormundung um? Eine philosophische Annäherung an die Impfpflicht.

Ach, die Freiheit. Die Arme. Sie muss derzeit für alles Mögliche und Unmögliche herhalten. Von allen Seiten wird sie belagert. Von rechts, von links, von oben, von unten. Nicht nur von der FDP, auch von der SVP («Freiheit und Sicherheit») und unlängst auch von der SP («Partei der Freiheit»).

Die so genannten «Freiheitstrychler» wollen sie, die Impfgegnerinnen, die Staatsgegner, aber auch die Impfbefürworter, ja selbst die Befürworter einer allgemeinen Impfpflicht. Sie alle wollen Freiheit. Die eine, wahre und wohlverstandene Freiheit. Doch wie diese Freiheit aussieht und was sie beinhaltet, darüber wird heftig gestritten.

Yves Bossart

Moderator und Philosoph

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Yves Bossart, geboren 1983, ist promovierter Philosoph und arbeitet als Redaktor und Moderator für die SRF-Sendung «Sternstunde Philosophie» .

Freiheit, aber bitte ohne Vorschriften

Gerne beruft man sich in gegenwärtigen Debatten um die Freiheit auf die politische Philosophie des Liberalismus, dessen Grundidee lautet: Der Staat soll ein Leben in Freiheit ermöglichen, mir aber bitte schön nicht vorschreiben, wie ich zu leben habe. Wir alle sollen nach unserer eigenen Façon glücklich werden können.

Die Forderung lautet also: Soviel Freiheit für alle wie möglich. Aber eben: Welche Freiheit? Und wo liegen die Grenzen der individuellen Freiheit? Wann darf der Staat meine Freiheit mit guten Gründen einschränken?

Als Antwort auf diese Frage wird gerne Immanuel Kant zitiert, der angeblich gesagt haben soll: «Die Freiheit des Einzelnen endet dort, wo die Freiheit des Anderen beginnt.»

Wer allerdings weiss, wie kompliziert Kant geschrieben hat, der wird nicht überrascht sein zu hören, dass Kant das so nie geschrieben hat. Egal. Gemeint hat er es. Vermutlich.

Illustration von Menschen an einer Party mit einem Impfpflaster am Oberarm.
Legende: Freiheit durch Impfung auf der einen Seite – die Freiheit, sich nicht impfen zu lassen auf der anderen. SRF/Yvonne Rogenmoser

Tun, was anderen nicht schadet

Ebenso unverbürgt, dafür weitaus plastischer, ist eine Formulierung, die dem US-amerikanischen Richter Oliver Wendel Holmes zugeschrieben wird: «Das Recht, meine Faust zu schwingen, endet, wo die Nase des anderen Mannes beginnt.» Ein schönes Zitat. Und man darf vermuten, dass gemäss Autor diese Begrenzung des Faust-Schwung-Rechts auch für weibliche Nasen gilt.

Das Prinzip dahinter findet sich, schwarz auf weiss, in Paragraph 4 der «Allgemeinen Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte», die am 26. August 1789 von der französischen Nationalversammlung verabschiedet wurde: «Die Freiheit besteht darin, alles tun zu können, was einem anderen nicht schadet. So hat die Ausübung der natürlichen Rechte eines jeden Menschen nur die Grenzen, die den anderen Gliedern der Gesellschaft den Genuss der gleichen Rechte sichern.»

Wo fängt Schädigung an?

Genau 70 Jahre später, also 1859, schreibt der britische Philosoph John Stuart Mill, eine prägende Figur des Liberalismus, in seinem Werk «Über die Freiheit», dass «der einzige Zweck, um dessentwillen man Zwang gegen den Willen eines Mitglieds einer zivilisierten Gesellschaft rechtmässig ausüben darf, der ist: die Schädigung anderer zu verhüten».

Meine Freiheit endet also da, wo ich anfange, andere zu schädigen. Nur, wo ist das? Schädigt mich mein Nachbar, wenn er am Sonntagvormittag oben ohne den Rasen mäht? Schädige ich andere, wenn ich mit einem normalen Schnupfen aus dem Haus gehe? Und welche Mittel darf der Staat einsetzen, um eine Schädigung anderer zu verhindern?

Über beide Fragen wird innerhalb der Familie des Liberalismus leidenschaftlich gestritten.

Liberalismus von rechts bis links

Die unterschiedlichen Positionen des Liberalismus lassen sich auf einem Spektrum anordnen: Am rechten Ende ist da die Vorstellung eines Minimalstaats, der mein Leben und mein Eigentum schützt, sich sonst aber aus allem raushält. Eine einflussreiche Figur dieser libertären Haltung ist die US-amerikanische Schriftstellerin und Philosophin Ayn Rand oder auch der US-Philosoph Robert Nozick.

Auf der Achterbahn steht ein Mann auf und befreit sich von seiner Gurte.
Legende: Die Gurtenpflicht: eine unnötige Einschränkung der persönlichen Freiheit oder sinnvolle Vorschrift? SRF/Yvonne Rogenmoser

Am linken Ende des Spektrums steht die Idee eines Wohlfahrtsstaats, der durch Umverteilung versucht, möglichst gleiche Chancen für alle zu schaffen. Wichtige Vertreter sind hier der US-Philosoph John Rawls oder der indische Philosoph und Ökonom Amartya Sen.

Irgendwo dazwischen befinden sich die Philosophen John Locke und John Stuart Mill, zwei frühe Wegbereiter des Liberalismus. Die eine Seite möchte im Kern eine «negative Freiheit»: eine Freiheit von staatlichen Eingriffen und Verboten. Die andere Seite möchte eine «positive Freiheit»: Die Freiheit eines jeden Einzelnen, sein Potential, seine Chancen zu verwirklichen.

Wenn Anreize nicht mehr genügen

Die eine, wahre Lehre des Liberalismus gibt es ebenso wenig wie es die eine, wahre Idee politischer Freiheit gibt. Und das ist auch gut so. Philosophie ist schliesslich keine Religion. Dasselbe gilt für die Politik.

Aber die Tatsache, dass seit einiger Zeit von allen Seiten und mit viel Hingabe am Begriff der Freiheit gearbeitet wird, ist bemerkenswert. Nicht erst seit der Corona-Pandemie. Auch der Klimawandel hat liberale Parteien wie die FDP dazu gezwungen, ihr tradiertes Konzept von Freiheit neu zu verhandeln.

Ein junger Mann entspannt im Liegestuhl auf einer Wiese, über seinen Köpfen Flugzeuge am Himmel.
Legende: Freiheit bedeutet auch Verantwortung: Ich verzichte auf Flugreisen zugunsten der zukünftigen Generation. SRF/Yvonne Rogenmoser

Denn wenn meine Bewegungsfreiheit da aufhört, wo die Nase des Anderen anfängt, dann gilt das auch für die Nasen zukünftiger Generationen. Und wenn blosse Anreize, Empfehlungen und der Verweis auf die Selbstverantwortung nicht dazu führen, dass schädigendes Verhalten aufhört, dann braucht es eben doch Steuern, Verbote und Sanktionen.

Egal, ob es um den schädlichen Ausstoss von CO2 geht oder um den Ausstoss von gefährlichen Viren. Womit wir wieder beim Thema wären: die Impfung. Respektive die Impfpflicht, die seit einigen Wochen debattiert wird.

Die Freiheit, sich selbst zu gefährden

In Österreich soll ab Februar eine Impfpflicht für alle eingeführt werden. Andere Nachbarländer der Schweiz kennen bereits eine Impfpflicht für bestimmte Gruppen, etwa für das Gesundheitspersonal oder für vulnerable Menschen, wie die Impfpflicht für Menschen über 50 in Italien.

Befürworterinnen und Befürworter einer allgemeinen Impfpflicht, wie sie Österreich plant, meinen, eine solche Pflicht sei zu rechtfertigen, weil Ungeimpfte das Virus weiterverbreiten und damit andere schädigen würden, auch indem sie das Gesundheitssystem an seine Belastungsgrenzen bringen.

Die Tatsache aber, dass Ungeimpfte sich selbst gefährden, ist allein kein guter Grund, sie zu einer Impfung zu verpflichten. Dieser Punkt ist wichtig. Niemand soll vor sich selbst geschützt werden. Es geht um die «Schädigung anderer», um mit John Stuart Mill zu reden.

Ist eine Impfpflicht verhältnismässig?

Nun stellt sich allerdings bei der Forderung nach einer staatlichen Impfpflicht die Frage der Verhältnismässigkeit. Und hier gilt: Eine Massnahme ist nur dann verhältnismässig, wenn sie sowohl «geeignet» als auch «erforderlich» und «zumutbar» ist.

In der gegenwärtigen Situation – angesichts der scheinbar weniger gefährlichen Omikron-Variante – ist höchst unklar, ob diese drei Kriterien erfüllt sind.

Aber selbst wenn wir eine Impfung hätten, die einen perfekten Schutz gegen ein hochgefährliches Virus bieten würde, stellt sich die Frage nach der Zumutbarkeit einer allgemeinen Impfpflicht. Viele Gegnerinnen und Gegner einer Impfpflicht sind der Ansicht, der Staat dürfe niemanden zu einem Eingriff in den eigenen Körper zwingen. Damit würde er das fundamentale Recht auf körperliche Unversehrtheit verletzen.

«Kein Eingriff in meinen Körper ohne meine informierte Zustimmung», lautet die Forderung. Doch was, wenn dieses Recht kollidiert mit der Pflicht, anderen nicht zu schaden? Und was heisst hier «schaden»?

Illustration von zwei Menschen unter einer Discokugel, die sich umarmen.
Legende: Die Balance zwischen Freiheit und Gleichheit ist das politische Kunststück der Gegenwart. SRF/YVONNE ROGENMOSER

Verantwortung oder Bevormundung?

Meine Gesundheit ist längst keine Privatsache mehr. Seit einigen Jahren lässt sich eine zunehmende staatliche Fürsorge in Sachen Gesundheit beobachten, manche reden gar von «Bevormundung». Angefangen von der Gurt- und Helmpflicht bis hin zur Debatte um eine Zucker- und Fettsteuer.

Es stellt sich also die Frage: Wann schlägt die Verantwortung des Staats um in Bevormundung? Wenn ich in Innenräumen rauche, dann gefährde ich auch andere. Aber wen gefährde ich, wenn ich mich ungesund ernähre? Belaste ich das Gesundheitssystem, die Krankenkassen und damit meine Mitbürgerinnen und Mitbürger? Aber ist das bereits ein guter Grund, Menschen zu benachteiligen, die einen ungesunden Lebensstil pflegen?

Die Freiheit neu denken

Freiheit ist, wenn man auch unvernünftig handeln kann. Solange andere nicht darunter leiden. Diese Balance zu finden, zwischen Freiheit und Gleichheit, das scheint das grosse politische Kunststück der Gegenwart zu sein. In einer Welt, in der alles mit allem zusammenhängt und unser Handeln Auswirkungen hat in ferne Länder ebenso wie in die ferne Zukunft.

Die Globalisierung, der Klimawandel und die Pandemie – sie alle haben deutlich gemacht, dass wir unsere Freiheit neu denken müssen. Freiheit heisst nicht, dass ich tun kann, was ich will. Da hatte der Philosoph Hegel schon Recht, der in diesen Tagen gerne zitiert wird mit dem Satz: «Freiheit ist die Einsicht in die Notwendigkeit.»

Leider findet sich auch dieser Satz so nicht bei Hegel, sondern erst bei Friedrich Engels. Was bei Hegel tatsächlich steht, ist der Satz: «Blind ist die Notwendigkeit nur, insofern dieselbe nicht begriffen wird». Aber das versteht leider niemand. Und falls doch, so heisst das noch nicht, dass eine allgemeine Impfpflicht eine solche «Notwendigkeit» ist, die Hegel meint. Und ob sie es unter anderen Umständen überhaupt sein kann. Oder sein soll.

Wie auch immer: Die «Arbeit am Begriff» der Freiheit geht weiter, wie Hegel gesagt hätte. Vermutlich.

SRF 1, Sternstunde Philosophie, 16.1.2021, 11 Uhr

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