«Gopfridstutz! Komm jetzt sofort zum Essen. Ich rufe dich schon zum fünften Mal. Es nervt mich!» So etwa klingt es, wenn mir mal wieder die Nerven reissen mit unseren drei Jungs. Wir wohnen in einer Siedlung und die Nachbarschaft, meist auch Eltern, hört mit.
«Ich habe die Kontrolle verloren und rumgeschrien. Das passiert allen anderen nicht.» Solche Gedanken kommen dann in mir hoch. Woher und warum ist mir selbst rätselhaft, aber ich schäme mich für meinen Kontrollverlust.
Nun scheint es, dass solche Gefühle keine Seltenheit sind für Eltern in Mittelstandsfamilien mit Kindern im Primarschulalter, wie ich in der Input-Sendung meiner Kollegin Mariel Kreis erfahre. Tatsächlich wird das Thema zunehmend medial thematisiert und treibt viele um, die mit Kindererziehung zu tun haben. Die bedürfnisorientierte Erziehung scheint dabei die Herangehensweise der Stunde.
Bedürfnisse verstehen
Dieser Erziehungsansatz ist eine Weiterführung der Ideen des «Attachment Parenting». Dieses fand in den 1980er-Jahren seinen Weg von den USA in die Welt. Der Kinderarzt William Sears und seine Frau Martha, eine Hebamme, zogen selbst acht Kinder gross.
Sie plädierten dafür, die Bindung zwischen Babys und Müttern zu stärken. So sollten beispielsweise Babys im Elternbett schlafen können oder möglichst oft am Körper getragen werden. Babys sollte man nicht erziehen, sondern ihre Grundbedürfnisse befriedigen.
Die starke Bindung zwischen Eltern und Kindern ist auch in der bedürfnisorientierten Erziehung wichtig. Diese geht davon aus, dass hinter jedem unerwünschten Verhalten eines Kindes ein natürliches Bedürfnis steckt. Zum Beispiel nach Nähe, Sicherheit oder Autonomie.
Eltern wird daher geraten, die Bedürfnisse zu verstehen. Schreit ein Kind, weil der Lieblingsteller in der Spülmaschine ist, prüfen die Eltern, ob das Kind vielleicht einfach müde ist, Aufmerksamkeit braucht, mitbestimmen will oder Hunger hat. Sie gehen nicht davon aus, dass das Kind sie in erster Linie ärgern will.
Wärme gegen Aggressionen
Über die bedürfnisorientierte Erziehung sind in den letzten Jahrzehnten hunderte Artikel geschrieben, Bücher publiziert und Ratgeber ins Netz gestellt worden. Viele Eltern orientieren sich daran.
Dass Kinder profitieren, wenn man liebevoll mit ihnen umgeht, bestätigen zahlreiche wissenschaftliche Untersuchungen. Eine OECD-Studie von 2020 zeigt, dass Kinder, denen emotionale Wärme fehlt und die stark gelenkt werden, eher aggressives Verhalten aufweisen und zu psychischen Problemen neigen.
Zunehmende Kritik
Dennoch werden zunehmend Klagen laut zur bedürfnisorientierten Erziehung. Bei SRF meldeten sich auf einen Aufruf hin zahlreiche Frauen: Mütter berichten, sie seien erschöpft, weil sie ob dem Erkennen der Bedürfnisse ihrer Kinder sich selbst vernachlässigt hätten.
Eine Lehrerin schreibt, unter Berufskollegen komme dieser Erziehungsstil meistens nicht gut weg. Hier denke man: Das sind die Kinder, die keine Grenzen kennen und Frust nicht aushalten könnten. Eine Erziehungsberaterin stellt fest, dass die bedürfnisorientierte Erziehung einen enormen Druck ausüben könne auf den Selbstwert der Mütter, weil diese angehalten sind, immer ruhig zu bleiben.
Und selbst eine bekannte Vertreterin der bedürfnisorientierten Erziehung beklagt: «Es ist der Horror, wenn ich ständig den Bedürfnissen des Kindes hinterherrenne. Aber darum geht es gar nicht. Das haben wir nie gesagt. Das hat nie irgendjemand gesagt.»
Lernen durch Grenzen
Diese Aussagen wundern Philipp Ramming nicht. Er ist Kinder- und Jugendpsychologe und hat 30 Jahre als Erziehungsberater im Kanton Bern gearbeitet. Inzwischen ist er pensioniert. Auch ihm gefällt die Haltung, Kinder nicht als Ärgernis zu sehen, sondern als ernstzunehmende Menschen mit Wünschen und Bedürfnissen.
Es gibt keine einfühlsamen Herdplatten.
Er stört sich allerdings am Terminus «bedürfnisorientiert». Erwachsenen, so sagt er, falle es schwer, zwischen einem Bedürfnis eines Kindes und einem Wunsch zu unterscheiden. Das führe zu Missverständnissen.
Und er sagt: «Die Welt richtet sich nun mal nicht nach den Bedürfnissen der Kinder. Es gibt keine einfühlsamen Herdplatten.» Man unterstütze Kinder nicht, wenn man stets auf ihre Bedürfnisse eingehe. Im Gegenteil.
Philipp Ramming findet, Kinder könnten dann viel lernen, wenn man ihnen Grenzen setze. Es sei wichtig für sie, dass sie sich reiben könnten an ihnen wohlgesinnten Erwachsenen. So könnten sie Resilienz und Frustrationstoleranz entwickeln und gut in unserer Gemeinschaft zurechtkommen.
Ambivalenz der Autorität
Was die bedürfnisorientierte Erziehung wohl mit sich bringt, sind viele Fragezeichen rund ums Thema Autorität. Diese wird heute mehrheitlich negativ konnotiert.
Philipp Ramming ordnet ein: Autoritäre Erziehung sei dann schlecht, wenn sie sadistisch, gemein, unterdrückend, entwertend oder verächtlich sei. Oder wenn sie zur Machtdemonstration eines Erwachsenen werde. «In dem Moment, in dem es eine Machtfrage wird, in dem man quasi dem ‹Goof› zeigen muss, wer hier der Chef ist, kommt es nicht gut.»
Für Philipp Ramming gibt es aber auch eine positive Autorität. Sie kann Klarheit bringen. «Um sieben kommst du heim. Dann sind wir da. Das gibt Sicherheit.» Im positiven Sinne den Lead zu übernehmen, helfe. Es seien die Erwachsenen, die den Kindern beibringen müssten, wie das Leben funktioniere, denn sie wüssten, wie es gehe.
Hart ins Gericht geht Philipp Ramming mit den Momfluencern. Mütter, die sich oft auf die bedürfnisorientierte Erziehung beziehen und auf Social Media ihren kleinen Kindern minutenlange einfühlsame Erklärungen präsentieren, bis diese ihnen auch ganz sicher folgen. Das sei realitätsfremd und Brainwashing der Kinder, sagt Philipp Ramming.
Einfach gut genug sein
Durch die Auseinandersetzung mit den Ideen und Hintergründen der bedürfnisorientierten Erziehung und dem Gespräch mit Philipp Ramming fühle ich mich besser informiert und gestärkt. Ich folgere: Erziehung ist immer auch ein Produkt ihrer Zeit und wohl oft auch ein Versuch, die Ohnmacht der Erwachsenen aufzufangen.
Die Ohnmacht, in die zumindest ich immer wieder verfalle: Wenn der Älteste wütend Dinge in der Wohnung herumschmeisst, der Mittlere schnippisch meint, er sei nicht fürs Tischdecken zuständig oder der Jüngste auch beim fünften Mal rufen nicht zum Essen erscheint.
Klar, schreien will ich eigentlich nicht. Aber, so sagt Philipp Ramming, es gebe ja das Konzept der «Good Enough Mother», der Mutter, die einfach «gut genug» für ihr Kind sei. Denn Kinder wollten eigentlich keine perfekten Eltern, sondern einfach authentische.