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Boykott russischer Kultur «Im Krieg wird die Welt schwarz-weiss – ohne Schattierungen»

Der Krieg gegen die Ukraine polarisiert auch die Kulturszene. Müssen sich russische Kulturschaffende zu Putins Politik positionieren? Bricht ein Kultur-Boykott die falschen Brücken ab? Die Meinungen gehen auseinander.

Seit Kriegsbeginn vergeht kein Tag ohne Aufruf für oder gegen einen Kultur-Boykott. «Wollen Sie die russische Aggression stoppen? Stoppen Sie deren Kultur bei der Beeinflussung Ihres Geistes.» Das schrieb die ukrainische Filmemacherin Darya Bassel.

Es ist nicht der einzige Appell, der zu einem generellen Bann russischer Kultur aufruft. Auch der PEN-Schriftsteller-Verband der Ukraine forderte kurz nach Kriegsbeginn den weltweiten Boykott russischer Bücher und Verlage.

Mittlerweile relativierte der PEN-Präsident Andrej Kurkow diese Forderung und plädierte für eine «Weisse Liste» mit Namen jener Kulturschaffenden aus Russland, die sich klar gegen den Krieg aussprechen. Auch ein offener Brief wehrt sich gegen einen pauschalen Boykott russischer Kulturschaffender.

Offener Brief gegen Pauschal-Verurteilung

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Gegen den Druck zum Bekenntnis zum Krieg wendet sich ein offener Brief, initiiert vom russischen Dirigenten Vladimir Jurowski: «Stoppt den Krieg und wirkt dem pauschalen Boykott russischer und belarussischer Kulturschaffender entgegen», so die Botschaft auf der Plattform « change.org ». Zu den Erstunterzeichnern gehören der Dirigent Simon Rattle, die Geigerin Patricia Kopatchinskaja oder die Tänzerin Sasha Waltz.

Trotz des unermesslichen Leids, das der skrupellose Krieg in der Ukraine verursache, so der offene Brief, könnten nicht alle russischen Kulturschaffenden für die Verbrechen eines diktatorischen Regimes verantwortlich gemacht werden. Niemand müsse sich für seine Staatsangehörigkeit rechtfertigen.

Druck zur öffentlichen Stellungnahme

Braucht es nun Sanktionen gegen alle, die keine Position zu Putins imperialer Politik beziehen wollen? Oder ist es wohlfeil, vom sicheren Westen aus, von russischen Kulturschaffenden eine Stellungnahme zu verlangen, obwohl sie dadurch ihre berufliche Existenz und bis zu 15 Jahre Gefängnis riskieren?

Wenn Du schweigst, unterstützt Du die Angriffe auf ukrainische Städte
Autor: Michail Schischkin Schriftsteller

In den Feuilletons und auf den Leserbriefseiten sorgt die Frage für Kontroversen. Viele fänden es undenkbar, in diesen Tagen ein Konzert der Starsopranistin Anna Netrebko zu geniessen, die sich zaghaft vom Krieg, aber nicht von Putin distanziert hat.

Andere berufen sich auf die Meinungsfreiheit und finden es falsch, wenn Kultur-Institutionen die Zusammenarbeit künden, weil Kunstschaffende eine Stellungnahme scheuen. Schliesslich gehe die politische Haltung den Arbeitgeber nichts an.

anna Netrebko singt auf einer Bühne.
Legende: Die Star-Opernsängerin wurde immer wieder für ihre Nähe zu Putin kritisiert. Jetzt haben sich ihr deutsches Management und Netrebko getrennt. IMAGO / CTK Photo

Heisst Schweigen Zustimmung?

Für den russischen Schriftsteller Michail Schischkin hingegen ist klar: Wer diesen Krieg nicht öffentlich verurteilt, soll nicht im Westen arbeiten dürfen. «Im Krieg wird die Welt schwarz-weiss, ohne Schattierungen. Wenn Du schweigst, unterstützt Du die Angriffe auf ukrainische Städte», sagt Schischkin, der seit langem in der Schweiz lebt.

Ich halte es nicht für angemessen, einen Generalverdacht über alles Russische zu verhängen.
Autor: Ilma Rakusa Autorin und Kulturvermittlerin

Obwohl er die Entwicklung der russischen Gesellschaft seit Jahren in luziden Essays analysiert und Putins Regime scharf kritisiert, bittet er, sichtlich aufgewühlt, um Vergebung für die Verbrechen, die jetzt im Namen Russlands in der Ukraine verübt werden.

Schischkin hofft mit Blick auf die Zukunft, dass der Dialog der Kulturen nicht gänzlich abreisst: «Nach dem Krieg wird so viel Schmerz, so viel Hass in den menschlichen Seelen bleiben – da wird nur die Kultur helfen können.»

Schriftsteller Schischkin vor einem Bücherregal.
Legende: Für Schischkin fördert Kultur den Dialog. Jetzt alle Brücken abzureissen, sei für ihn nicht der richtige Weg. KEYSTONE/Georgios Kefalas

Kollektivstrafen könnten Putins Narrativ stärken

Die Zürcher Autorin und Kulturvermittlerin Ilma Rakusa stimmt grundsätzlich zu, dass Schweigen nach Mitläufertum aussieht. Sie hat aber auch Verständnis für russische Künstlerinnen und Intellektuelle, die jetzt aus schierer Angst ruhig sind und abwarten. «Bei Einzelpersonen muss man genau hinschauen. Ich halte es nicht für angemessen, einen Generalverdacht über alles Russische zu verhängen.»

Im Gegenteil könnte eine Kollektivstrafe bewirken, dass Putins Narrativ vom russophoben Westen bestärkt würde. Klar ist für sie, dass es zurzeit keine Zusammenarbeit mit staatlich gelenkten und finanzierten Kulturinstitutionen aus Russland geben soll.  

Während Bomben auf die Ukraine fallen und täglich Menschen sterben, liege der Fokus nun ohnehin nicht auf dem Umgang mit russischen Kulturschaffenden, sagt Ilma Rakusa. «Wenn das Schlimmste – der Krieg – überstanden ist, muss die Kultur wieder aktiv werden. Sie ist eine soft power, sie hat ihre eigenen Möglichkeiten, Menschen zu bewegen, zu sensibilisieren, zu informieren, zu verändern.»

Radio SRF 2 Kultur, Kultur-Talk, 23.03.2022, 09:03 Uhr

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