Margaret Atwood, Noam Chomsky, J.K. Rowling, Daniel Kehlmann: 150 namhafte Intellektuelle haben im «Harper’s Magazine» einen offenen Brief unterzeichnet , in dem sie die «steigende Intoleranz» in der öffentlichen Debatte beklagen und mehr Offenheit fordern.
Zu Recht, sagt der Historiker Caspar Hirschi über diesen Denkanstoss zur demokratischen Diskussionskultur. Wer heute legitime, aber unbequeme Positionen vertrete, werde schnell stigmatisiert.
SRF: Die öffentliche Debatte werde zunehmend intolerant, heisst es im offenen Brief. Ist diese Diagnose berechtigt?
Caspar Hirschi: Sie ist überfällig. Vor allem für die USA, weil sich dort schon lange beobachten lässt, dass die Toleranz, sich mit abweichenden Meinungen auseinanderzusetzen, stark schwindet.
Das sieht man in der politischen Diskussion. Aber man sieht es auch in der wissenschaftlichen Diskussion.
Können Sie das an einem aktuellen Beispiel illustrieren?
Die berühmte Literatin Margaret Atwood wurde angegriffen, weil sie die #MeToo-Bewegung zwar als eine wichtige Reaktion auf das Versagen des Justizsystems gewürdigt hat.
Aber sie hat auch kritisiert, dass nicht klar sei, wie sich Angeklagte jetzt in Prozessen selber verteidigen können. Das hat dazu geführt, dass Atwood zur Persona non grata in progressiven Kreisen geworden ist.
Hier sieht man, was für ein gesellschaftlicher und medialer Druck erzeugt werden kann mit Personen, die legitime Positionen vertreten, aber eben Teil einer öffentlichen Diskussion sind, die extrem polarisiert daherkommt.
Es ist schwierig geworden, Kritik an diskriminierten Minderheiten zu üben.
Was ist der Grund, dass jetzt auch progressive Personen darunter leiden? Hängt das damit zusammen, dass man Minderheiten nicht mehr öffentlich kritisieren darf?
Bis zu einem gewissen Grad trifft das zu. Es ist schwierig geworden, Kritik an diskriminierten Minderheiten zu üben. Wenn etwa heterosexuelle Schwarze homosexuelle Weisse anfeinden, dann ist es sehr schwierig thematisierbar.
Es gibt eine ganze Reihe von Tabus in der öffentlichen Debatte, die man nur schwer ansprechen kann. Und wenn sie dann mal angesprochen werden, kommt es schnell zu einer Stigmatisierung.
Das ist gerade für eine demokratische Diskussion, die auch die Probleme um Diskriminierung lösen möchte, eher eine Erschwernis als eine Hilfe.
Im deutschsprachigen Raum gibt es aber ähnliche Tendenzen.
Stellen Sie diese Tendenz auch hier in Europa und in der Schweiz fest?
Bisher ist das ein Phänomen, das besonders im englischsprachigen Raum stark ausgeprägt ist.
Im deutschsprachigen Raum gibt es aber ähnliche Tendenzen. Vor allem auf Twitter können Kampagnen gestartet werden. Die Kopftuchdebatte ist von ähnlichen Polarisierungen geprägt – in Deutschland stark, zum Teil auch in der Schweiz.
Ein klassisches Dilemma zwischen zwei Grundwerten, der Gleichberechtigung von Mann und Frau und dem Recht auf kulturelle Selbstbestimmung, kann man in der öffentlichen Debatte eigentlich nicht thematisieren.
Was sind die Folgen?
Das führt zu einem Fundamentalstreit zwischen Rassisten auf der einen Seite und Fundamentalisten auf der anderen, aber eine vernünftige Diskussion kann man nicht führen.
Die Mohrenkopf-Diskussion in der Schweiz ist die Fortsetzung der amerikanischen Diskussion als Farce. Und auch hier sieht man, dass die Rechtspopulisten am meisten davon profitieren. Weil sie im Mohrenkopf im wörtlichen Sinne ein gefundenes Fressen für sich haben.
Das Gespräch führte Beat Vogt.