Schaut Markus Meier auf die letzten Jahre zurück, sieht er sich im emotionalen Ausnahmezustand.
Ich habe alle Stimmungsschwankungen durchlebt: Wut, Angst, Verzweiflung. Und immer die Frage: Kann ich mir das überhaupt leisten?
Markus Meier heisst in Wirklichkeit anders. Der 45-Jährige kämpft seit sieben Jahren um seinen Erbteil, mittlerweile vor Gericht. Gekostet hat es ihn seine Ersparnisse und die Beziehung zur Familie.
Der Erbvertrag als Anfang vom Ende
Begonnen hat der Streit am Sterbebett des Vaters. Ende April 2014 besucht Markus Meier ihn zu Hause. Der 67-Jährige hat Krebs. An diesem Frühlings-Nachmittag ist klar: Es geht zu Ende.
Eine Etage tiefer findet derweil ein seltsames Treffen statt: Im Wohnzimmer des väterlichen Wohnhauses entwerfen Markus’ Stiefmutter, sein Halbbruder und ein Finanzberater einen Erbvertrag. Einen Vertrag, wie das Millionen-Vermögen des Vaters nach dessen Tod aufgeteilt werden soll.
Friss oder stirb
Markus weiss damals von nichts. «Ein paar Tage später sollten wir alle ans Sterbebett kommen, um den Vertrag zu unterschreiben – friss oder stirb. Ich hatte keine Ahnung, was drin stand – da läuteten bei mir die Alarmglocken».
Er beginnt, im Internet zu recherchieren. Zunächst versucht er es mit kostenloser Rechtsberatung. Dabei wird ihm schnell klar; das reicht nicht. «Ich war der naivste Mensch der Welt», meint er rückblickend. «Alle rieten mir: Nimm dir einen Anwalt!»
Funkstille in der Familie
Der Vater stirbt Ende Mai 2014. Ein Testament hatte er nicht verfasst. Der Erbvertrag am Sterbebett wird nie unterzeichnet; Markus fühlt sich erpresst – und weigert sich. Er besteht auf den sogenannten Pflichtteil, den gesetzlich geschützten Erbteil, der Kindern zusteht. Als Stiefmutter und Halbbruder sich sperren, geht er damit vor Gericht.
Das ist über sieben Jahre her. Für die Familie war es der Anfang vom Ende eines einigermassen pfleglichen Umgangs. Heute ist der Nachlass noch immer nicht geregelt. Die Familienmitglieder kommunizieren nur noch über ihre Anwälte miteinander.
180'000 Franken hat Markus Meier der Prozess bisher gekostet, entschieden ist noch nichts: «Ich frage mich oft, ob es nicht hätte anders kommen können», meint er. «Manchmal wünschte ich, mein Vater hätte kein Vermögen gehabt.» Aber loslassen kann er auch nicht.
Diese Heftigkeit, mit der um einen Nachlass gestritten wird, beobachtet auch Richterin Marion Erhardt. Sie ist seit 23 Jahren am Bezirksgericht Zürich und sagt, heute werde verbissener gestritten: «Die Leute sind weniger bereit zu Kompromissen, sie sagen dann jeweils, sie wollten nur, was ihnen zustehe.»
Eine Mischung aus Geld und Gefühlen
Die Gründe für diese Kampfbereitschaft haben mit veränderten Mentalitäten zu tun, vermutet Richterin Erhardt. Die Anspruchshaltung sei gestiegen. Mit ein Grund sind auch die enormen Summen, die jedes Jahr in der Schweiz vererbt werden: Wo mehr Geld ist, lässt sich länger streiten. Eine ganze Branche lebt von den Streitigkeiten. Anwälte und Nachlassverwalterinnen, Treuhänder, Gutachter und Notarinnen – es dürften einige zehntausend sein.
Hinzu kommen veränderte Familienformen: Zwar entschärfen die vielen Ein-Kind-Familien den Erbstreit unter Geschwistern. Doch es gibt mehr Patchwork-Konstrukte, welche Erbangelegenheiten komplizierter und oft auch streitanfälliger machen.
Schnell vermischten sich Geldansprüche und Gefühle, vermutet Richterin Erhardt: «Hinter verhärteten Positionen, wenn die Parteien kein Jota abrücken von ihren Forderungen, stecken oft alte Geschichten, frühere familiäre Verletzungen.»
Beim Erben wird abgerechnet
Mit solch alten Geschichten beschäftigt sich Peter Breitschmid seit 40 Jahren. Der Erbrechtsexperte arbeitet für eine Anwaltskanzlei und lehrt an der Universität Zürich.
Auch scheinbar kleine Ungerechtigkeiten kommen bei ihm wieder auf den Tisch. «Bei einer Erbstreitigkeit unter drei Brüdern im Pensionsalter ging es um einen zweistelligen Millionen-Nachlass, ein Grundstück mit Immobilien am See. Streitpunkt war die Parzellierung – und plötzlich sagte einer der Brüder, er habe schon als Kind immer die kleinsten Weihnachtsgeschenke bekommen.»
Blut ist dicker als Wasser
Die Meiers sind eine Patchworkfamilie. Vater Meier führte zwei Ehen. Mit der ersten Frau hatte er eine Tochter und Sohn Markus, die Scheidung nach wenigen Jahren war hässlich. Die Kinder blieben bei der Mutter. Mit der zweiten Frau hatte Vater Meier noch einen Sohn, Markus’ Halbbruder.
Zusammengehalten wurden die beiden Familienteile durch den Vater. «Ich war vielleicht jedes zweite Wochenende bei ihm», erzählt Markus, «oder manchmal in den Ferien.»
Verehrter Vater, verachtete Stiefmutter
Der Vater war beruflich erfolgreich, «ein Macher», wie Markus es formuliert. Die vielen Bekannten und Freunde im väterlichen Haus hätten ihn beeindruckt.
Das Verhältnis zur Stiefmutter dagegen war kühl: «Meine Schwester erzählt sogar, ich sei wahnsinnig widerborstig gewesen, die Stiefmutter habe sich an mir abgearbeitet. Ich kann mich daran nicht erinnern.»
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Der Erbstreit wird zum Juristenfutter
Viele Jahre später, als Markus nicht Hand bot für eine Erbteilung, bei der er nicht mitreden konnte, war das familiäre Geschirr zerschlagen.
Seither streiten die Meiers um den Umfang des väterlichen Nachlasses – und um die Frage, welches Kind schon zu Lebzeiten des Vaters wie viel erhalten hat.
Wer viel hat, kann länger streiten
Es geht um mehrere Millionen. Der Vater hatte ein Berufsleben lang Immobilien gekauft und bewirtschaftet. Als er nach kurzer, schwerer Krankheit starb, gehörten ihm mehrere Häuser in der Zentralschweiz und im Tessin. Aber sind diese Immobilien vier oder sechs Millionen Franken wert? Und waren die häufigen Zahlungen an den Halbbruder Schenkungen, die angerechnet werden müssen, oder Leihgaben, die der Halbbruder zurückzahlte?
Was sich technisch anhört, ist bei Erbstreitigkeiten oft Anlass für langwierige Auseinandersetzungen – und vor Gericht schwer zu beweisen. Es folgen Schätzungen, Gutachten, Gegengutachten.
Jede Partei kann jederzeit Einspruch erheben. «Das ist zermürbend. Es kostet Geld und Nerven und kann ewig dauern,» so Richterin Marion Erhardt. «Manchmal ist es eine Frage des Geldes, welche Partei den längeren Atem hat.»
Streiten in der Zwangsgemeinschaft
Das Schweizer Erbrecht ist gnadenlos. Eine Erbengemeinschaft ist kein Verein, dem man freiwillig beitritt, sondern eine Zwangsgemeinschaft. Ihr gehören alle gesetzlichen Erben an, ob sie wollen oder nicht.
Sie müssen die Erbteilung einstimmig entscheiden. Die Gegner wird man nur los, wenn man ihnen die Hand zum Kompromiss reicht. Darum kommen bei Erbstreitigkeiten vor Gericht so häufig Vergleichsangebote auf den Tisch. Jede Partei und auch das Gericht können jederzeit Kompromissvorschläge machen, damit es den finalen Richterspruch zur Erbteilung nicht braucht.
Tricks und Kniffe
Allerdings gehören strategisch platzierte Vergleichsangebote auch zum Repertoire guter Anwältinnen und Anwälte. Es kommt mitunter darauf an, wann man der Gegenseite ein Angebot macht. Ein gut platziertes Vergleichsangebot kann die andere Partei auch unter Druck setzen.
Bei den Meiers beherrschen die Anwälte beider Seiten die Kunst: Einmal kommt ein Vergleichsangebot von Stiefmutter und Halbbruder, als Markus und seine Schwester in Zugzwang sind, weil sie als Kläger bestimmte Fristen einhalten müssen. Ein anderes Mal steigt der Druck auf Stiefmutter und Halbbruder, weil der neue Richter am zuständigen Gericht von ihnen mehr Kooperationsbereitschaft fordert.
Auch, dass Markus Meier seine Geschichte öffentlich macht, dürfte nicht völlig ohne Wirkung sein. Wer ums Erbe streitet, kämpft mit allen verfügbaren Mitteln.
Was bleibt?
Und doch fragt man sich: Warum tut der Mann sich das an? Bis heute brachte es ihm nur Kosten, Ärger und ein zerrüttetes Familienverhältnis. Entschieden ist noch immer nichts.
Derzeit liegt wieder ein Vergleich auf dem Tisch. Der Wievielte? Markus Meier müsste nachschauen. Klappt es diesmal, finden sich die Streitparteien in der Frage, wie umfangreich der väterliche Nachlass ist und wie gross die Portionen für Markus und seine Schwester sind. «In diesem Fall könnte es Mitte kommenden Jahres ausgestanden sein», schätzt Markus Meier. Und wenn nicht? «Dann läuft es wohl auf den finalen Richterspruch zur Erbteilung hinaus – das dürfte dann 2023 werden oder 2024.»
Im besten Fall werden es also acht Jahre sein, die Markus mit Erbstreitigkeiten verbracht hat, im schlechtesten Fall zehn. Sein Anteil dürfte sich auf einen mittleren sechsstelligen Betrag belaufen. Die Prozesskosten, das Geld für den Anwalt, die Gutachter und Nachlassverwalter nicht mit eingerechnet, geschweige denn der Preis für die familiäre Zerrüttung.
Über die Frage, ob sich der Aufwand gelohnt hat, muss Markus Meier lange nachdenken, bevor er antwortet: «Ich weiss nicht, ob es sich lohnt. Eher nicht. Aber darum geht es nicht. Es war einfach nicht richtig, wie das hätte laufen sollen. Ich verlange nur, was mir zusteht.»