Zum Inhalt springen

Faszination «Titan» «Wir identifizieren uns eher mit Millionären als mit Flüchtenden»

Diese Woche verschwanden im Atlantik fünf reiche Touristen. Sie waren in einem Tauchboot auf Erkundungstour zum Wrack der «Titanic». Der Aufwand, sie zu bergen, war immens – die mediale Berichterstattung ebenfalls.

Der Tod Hunderter Geflüchteter im Mittelmeer letzte Woche hingegen geriet in den Hintergrund. Wie kann so etwas sein? Der Philosoph und SRF-«Sternstunde»-Moderator Yves Bossart mit dem Versuch einer Erklärung.

Yves Bossart

Moderator und Philosoph

Personen-Box aufklappen Personen-Box zuklappen

Yves Bossart, geboren 1983, ist promovierter Philosoph und arbeitet als Redaktor und Moderator für die SRF-Sendung «Sternstunde Philosophie» .

SRF: Warum beschäftigt uns dieses Unglück mehr als der Tod von Tausenden von Menschen, die auf ihrer Flucht übers Mittelmeer nach Europa ertrinken?

Yves Bossart: Das hat sicher etwas mit der Häufigkeit zu tun, beziehungsweise mit der Seltenheit. An die Toten im Mittelmeer haben wir uns gewöhnt – so zynisch das klingt. Wir sind abgestumpft. Die Sache mit der «Titan» ist neu und einmalig. Zudem auch konkreter vorstellbar für uns, lebensweltlich näher.

Inwiefern?

Viele von uns können sich eher mit diesen Millionären identifizieren, die auf engsten Raum eingesperrt sind – die einen Namen und eine Identität haben. Das ist anders als bei der anonymen Masse der Flüchtenden.

Das Migrationsproblem lösen wir nicht, indem wir einmal die Ertrinkenden aus dem Wasser ziehen.

Das Tauchboot-Drama verfolgen wir wie einen Hollywood-Film, bei Flüchtlingsbooten neigen wir zur Verdrängung. Warum?

Vermutlich hat das mit Schuldgefühlen zu tun. Beim Tauchboot sind wir unbeteiligte Beobachtende – wie im Kino. Wir können und müssen nichts tun. Bei den Bootsflüchtlingen wissen wir tief in uns drin: Wir und die Politik könnten dagegen etwas tun. Seit Jahren schon!

Und warum tun wir nichts?

Es gibt einen wichtigen Unterschied: Wir wissen, dass die Notsituation des Tauchbootes vermutlich einmalig ist. Danach wird man die technischen oder menschlichen Mängel beheben.

Das Migrationsproblem lösen wir jedoch nicht, indem wir einmal die Ertrinkenden aus dem Wasser ziehen. Das ist nur Symptombekämpfung.

Ist es aus moralischer Sicht gerechtfertigt, so viel Geld für die Suche nach Milliardären auszugeben, während wir Flüchtlingsbooten beim Untergang zusehen?

Aus moralischer Sicht spricht wenig bis nichts dafür, zwischen Menschenleben zu unterscheiden und für die Rettung des einen mehr Geld auszugeben als für andere.

Jedes Leben ist gleich viel wert, zumindest wenn wir Immanuel Kant folgen – egal, ob alt, jung, hier bei uns oder weit weg, mein eigenes Kind oder ein fremdes. Es geht um Unparteilichkeit. Jeder Mensch hat die gleiche Würde und damit auch das Recht auf Schutz.

Und aus politischer Sicht?

Politisch gesehen kann man argumentieren, dass wir das Problem nicht lösen, sondern verschärfen, indem wir die flüchtenden Menschen aus dem Meer retten.

Das alles ist Stoff für Hollywood. Aber Moral ist eben etwas anderes: oft unangenehm und auch langweilig.

Wir spielen den Schleppern in die Hände und übergeben die Verantwortung an die Grenzstaaten wie Italien. Das ist aus Sicht der verteilenden Gerechtigkeit auch nicht unproblematisch.

U-Boot-Unglücke haben immer schon fasziniert und nehmen in den Medien stets sehr viel Platz ein. Hat das eine tiefenpsychologische Komponente?

Ich denke, es geht um ein Sinnbild für die menschliche Hybris – den Übermut, der mit der Tragödie, mit dem Scheitern endet. Ähnlich wie Ikarus, der zur Sonne fliegen wollte und dem dann die Wachsflügel geschmolzen sind und der abstürzt.

Dieses griechische, aber auch christliche Motiv der Demut sitzt tief in unserem kollektiven Unbewussten. Aber auch die Faszination, Grenzen zu überwinden, Neues zu entdecken, über sich hinauszuwachsen – gottähnlich zu werden.

Das alles ist Stoff für Hollywood. Aber Moral ist eben etwas anderes: oft unangenehm und auch langweilig.

Das Gespräch führte Annelis Berger.

Radio SRF 2 Kultur, Kultur Aktualität, 22.6.2023, 17:10 Uhr ; 

Meistgelesene Artikel