Eva Reisinger ist wütend. Sie ist wütend, dass sie immer wieder Schlagzeilen über Femizide liest. «Und es hat sich trotzdem bislang nichts verändert», sagt sie.
Als Journalistin berichtete Reisinger über Frauenmorde in ihrem Heimatland Österreich. Sie kennt die Zahlen, die für Österreich ebenso wie für die Schweiz gelten: Im Durchschnitt wird alle zwei Wochen eine Frau Opfer eines Tötungsdelikts.
Frauen sterben, weil sie Frauen sind
Es sind genau solche Sätze, die wir ohne mit der Wimper zu zucken, lesen, weil wir uns an diese Nachrichten gewöhnt haben. Darum noch einmal: Im Schnitt kommt es alle zwei Wochen zu einer vollendeten oder versuchten Tötung einer Frau.
Alle diese Frauen werden nicht zufällig Opfer von Gewalt, sondern aufgrund ihres Geschlechts. Wenn eine Person getötet wird, weil sie eine Frau ist oder als solche gelesen wird, spricht man von einem Femizid. Der Täter ist der Partner oder Ex-Partner, der Vater oder der Sohn – stammt in der Regel also aus dem engsten Kreis des Opfers
Es geht bei diesen Delikten nicht nur um das Geschlecht des Opfers, sondern um die Motivation des männlichen Täters. «Es sind frauenverachtende und sexistische Haltungen und überholte patriarchale Glaubenssätze, die hinter diesen Taten stecken», sagt Agota Lavoyer, Expertin für Opferberatung und sexualisierte Gewalt.
Fakten liegen auf dem Tisch, doch niemand handelt
Sowohl auf die Zahlen als auch auf die Ursachen von Femiziden machen Journalistinnen, Politikerinnen und Frauenrechtsbewegungen seit Jahren aufmerksam. Zu ihnen gehört Eva Reisinger. Mit ihren Artikeln und Reportagen wollte sie die Gesellschaft sensibilisieren und die Politik zu Massnahmen gegen Frauenhass und sexualisierte Gewalt bewegen.
Was Eva Reisinger nach ihrer Berichterstattung aber vor allem blieb, war Frustration: «Die Zahlen, die ich veröffentlicht habe, waren längst bekannt und die Expertinnen, mit denen ich gesprochen habe, hatten eins zu eins dieses Interview schon hundertmal gegeben.»
Es war die Zeit, als Eva Reisinger begann, an ihrer eigenen journalistischen Arbeit zu zweifeln. Gleichzeitig stieg der Wunsch nach neuen Geschichten. Geschichten, in denen die Frau nicht Opfer ist, sondern Macht ausübt. Darum hat sie das Buch «Männer töten» geschrieben.
Das Bild der «schönen Leiche»
Ein Blick in den Film- und Literaturkosmos zeigt, dass unsere Kulturgeschichte rar ist an weiblichen Protagonistinnen, die aktiv und selbstermächtigt handeln. Natürlich gibt es die sogenannten «starken» weiblichen Figuren. In den Geschichten, die wir einander erzählen, stehen Frauen aber vor allem in Abhängigkeit zu einem Mann, werden unterdrückt von einem Mann oder getötet durch einen Mann.
Die tote Frau ist ein jahrhundertealter Topos. Dafür steht in den Kulturwissenschaften der Begriff der «schönen Leiche», wie die Literaturwissenschaftlerin Nadia Brügger erklärt: «Bis heute findet eine Obsession mit der toten Frau statt. Sehr oft braucht es einen Femizid oder eine tote Frau, um eine Erzählung in Gang zu bringen.»
Besonders gut kennen wir das aus Märchen oder Krimis: Am Anfang muss eine Frau sterben, damit die Geschichte eines Mannes erzählt werden kann. Selbst wenn dieser Mann ein Täter ist, liegt der Fokus auf ihm. Das begünstigt das Sympathisieren und Identifizieren mit dem Mann.
Währenddessen wird die Frau sehr oft als Leiche und damit als totes Objekt ästhetisiert oder sogar erotisiert. Auch für diese Darstellung der Frau kennt die Kulturwissenschaft eine eigene Bezeichnung «Killing women into Art».
Was, wenn Frauen Männer töten?
Dass wir uns an diese Art von Geschichten derart gewöhnt haben, führt dazu, dass eine getötete Frau auch in der Realität normalisiert wird. Davon ist Eva Reisinger überzeugt: «Es macht etwas mit uns, wenn ständig erzählt wird, dass Frauen selbstverständlich sterben und selten das Gegenteil dargestellt wird.»
Eine solche gegenteilige Darstellung hat Eva Reisinger nun selbst geschaffen. Das Übermass an immer wiederkehrenden Erzählungen von toten Frauen einerseits und die Ernüchterung nach ihren eigenen Berichterstattungen andererseits sind die Gründe, dass jetzt ihr Debütroman vorliegt.
«Männer töten» heisst das Buch. Die Zweideutigkeit des Titels ist von der Autorin beabsichtigt: «Geht man bei diesem Titel davon aus, dass es sich um ein Buch handelt, in dem Frauen ermordet werden, zeigt das schon, wie sehr wir uns an diese Geschichten gewöhnt haben.»
Die Trigger-Warnung auf der ersten Seite des Romans verrät aber, dass der Spiess umgedreht wird: «In diesem Buch sterben Männer.» Hier sind es also die Frauen, die Männer töten.
Die Rache der Frau ist nicht neu
Eva Reisingers Roman erzählt die Geschichte einer jungen Städterin, die in ein österreichisches Provinzkaff zieht und sich unverhofft in einem Matriarchat wiederfindet. Hier rächen sich die Frauen an denjenigen Männern, die ihnen Gewalt angetan haben. Sie töten solidarisch und erlangen als Täterinnen wieder Macht, nachdem sie alle Opfer von sexuell motivierter Gewalt geworden sind.
«Männer töten» reiht sich ein ins Genre der sogenannten «Female Revenge», des weiblichen Racheakts in Büchern, Filmen und der Musik. Insbesondere in der Popkultur ist diese Form der Selbstermächtigung im Trend. So besingen zum Beispiel die US-amerikanischen Popsängerinnen Taylor Swift und Billie Eilish die gewaltvolle Rache an Männern und im Film « Promising Young Woman » (2020) startet die Protagonistin einen Racheakt gegen Vergewaltiger.
Ein völlig neues Phänomen ist die «Female Revenge» aber mitnichten. In den 1970er- und 1990er-Jahren sorgten etwa die Romane «Wie vergewaltige ich einen Mann?» von Märta Tikkanen oder die Rachevergewaltigung in Ulla Hahns «Ein Mann im Haus» für kontroverse Diskussion.
Brutal: Muss das sein?
Obwohl Eva Reisinger mit ihrem Roman «Männer töten» alles andere als Neuland betritt, bleibt die Darstellung von weiblicher Gewalt für viele befremdlich. Das zeigen die Rezensionen von Filmen und Büchern dieses Genres.
Das stellt auch Eva Reisinger nach der Veröffentlichung ihres Romans fest: «Ich werde immer wieder darauf angesprochen, warum die Männer so brutal sterben müssen. Würden in dem Buch Frauen auf dieselbe Weise sterben, würde ich das nicht ständig gefragt werden. Da bin ich mir sicher.»
Vielleicht stimmt das. Trotzdem stellt sich die Frage, warum diese explizite Gewaltdarstellung angebracht ist, während die journalistische Berichterstattung immer wieder dafür kritisiert wird, Tötungsdelikte und Femizide zu detailliert zu beschreiben.
Mit «Female Revenge» zur Selbstermächtigung
Die Kunstfreiheit ist nicht allein der Grund, warum Gewalt in Büchern und Filmen berechtigt ist. Für die Literaturwissenschaftlerin Nadia Brügger ist die fiktive Gewalt von Frauen an Männern auch eine «Form der Selbstermächtigung».
Im Genre der «Female Revenge» ist die Gewalt an Männern so gut wie immer eine Antwort auf Gewalt an Frauen. Diese Antwort mag extrem sein. Manchmal braucht es aber dieses Extrem, damit eine betroffene Frau überhaupt den Mut aufbringen kann, sich zu wehren.
Das bedeutet nicht, dass ein Buch wie «Männer töten» eine Handlungsanweisung ist. Viel mehr rücken die literarischen Morde durch Frauen den Blick auf die realen Femizide. Durch die ungewohnte Umkehrung von Opfer und Täter wird die Absurdität und Ungerechtigkeit dieser Gewalttaten an Frauen offensichtlich.
Um es in den Worten der Autorin zu sagen: «Ich finde es bemerkenswert, dass man die Gewalt in meinem Buch kritisiert, während in Wien Frauen angezündet werden.» 2021 tötet ein Mann seine Ex-Partnerin, indem er sie mit Benzin übergoss und anzündete .
Weibliche Rache: hysterisch vs. heilsam
Das Genre der «Female Revenge» widersetzt sich nicht nur dem Tabu der weiblichen Gewalt. Es deckt auch auf, dass das Bedürfnis nach Rache für Frauen kaum vorgesehen ist in unserer Gesellschaft. Die Handvoll Rächerinnen, wie wir sie aus Streifen wie «Kill Bill» von Quentin Tarantino kennen, ändern nichts daran, dass die Frau als Rächerin nach wie vor irritiert.
Zwar werden unzählige Geschichten der antiken Mythologie, des Alten Testaments und so gut wie jeder Western durch das Motiv der Rache angestossen. Reserviert ist der Wunsch nach Rache aber fast ausschliesslich für männliche Figuren.
Ist es für einmal eine Frau, die in solchen Erzählungen Rache ausübt, handelt es sich meistens um einen Akt der Hysterie. Die Geschichten von Frauen, die sich mit der Gerechtigkeit auf ihrer Seite selbstbewusst rächen, sind wir hingegen viel weniger gewohnt.
Man könnte annehmen, dass Frauen, denen Gewalt angetan wurde, den Wunsch verspüren, sich an ihrem Peiniger zu rächen. Dieses Bedürfnis wäre legitim. Aber die Realität sieht meist anders aus, weiss die Expertin für sexualisierte Gewalt Agota Lavoyer: «Gesellschaftlich ist es derart verpönt, Rache zu wollen oder wütend zu sein, dass die betroffenen Frauen diese Gedanken oft gar nicht zulassen und sich stattdessen schuldig fühlen für das, was passiert ist.»
Mehr Geschichten über selbstbestimmte weibliche Rächerinnen könnten helfen, das Selbstbewusstsein betroffener Frauen zu stärken, davon ist Eva Reisinger überzeugt: «Die Gedanken an Rache können heilsam sein, weil sie uns eine Form der Macht geben.»
Romcoms bagatellisieren Stalking
Auch für Agota Lavoyer steht ausser Frage, dass wir dringend neue Narrative brauchen, die Frauen Selbstermächtigung zusprechen und Gewalt und Morde an Frauen dezidiert als Problem darstellen. «Es wird völlig unterschätzt, wie viel Einfluss Filme und die Literatur auf die Narrative haben, die vorherrschen: über Geschlechter, über Stereotype und über sexualisierte und häusliche Gewalt.»
Dabei denkt Agota Lavoyer auch an vermeintlich harmlose Geschichten, wie romantische Komödien: «In diesen Filmen wird ein Stalking oft nicht als solches benannt, sondern als eine grosse Verknalltheit des Mannes.»
«Es wäre an der Zeit», so Agota Lavoyer, «dass Filme und Bücher diese Gewalt weder bagatellisieren noch romantisieren». Denn wenn häusliche Gewalt und Stalking als romantische oder lustige Geschichte verpackt werden, kann das auch unsere Wahrnehmung von Gewalttaten prägen.
Geschichten, gemacht für Männer
Bücher, Filme und Serien, die als Antwort auf sexualisierte Gewalt und Femizide neue Narrative schaffen, häufen sich. Sie bringen oft einen entlarvenden Perspektivenwechsel mit sich und sind gerade für männliche Jugendliche und Männer aufschlussreich.
Forschungen aus dem Ausland zeigen, dass sexistische, misogyne und patriarchale Glaubenssätze die Ursache dafür sind, wenn Männer gewalttätig werden gegenüber Frauen. Es sind Glaubenssätze, die in Erzählungen von Generation zu Generation reproduziert werden.
Eine Umkehrung solcher Erzählungen ist darum notwendig. So wie sie Eva Reisinger mit «Männer töten» vollführt, damit weder mordende Männer noch getötete Frauen als Normalität wahrgenommen werden.