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Die Definition von «Frau» sorgt für Diskussionen
Aus Kultur Webvideos vom 24.09.2022.
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Feminismusdebatte Wer darf sich Frau nennen?

Geschlechtergrenzen zerfliessen: Nicht mehr der Körper entscheidet, sondern das Gefühl. Eine Kontroverse zwischen Erleichterung, Angst und Verunsicherung.

«Verantwortungslos» sei das, «völlig wahnsinnig». Alice Schwarzer enerviert sich. Und legt an den Tag, wofür sie seit Jahrzehnten berühmt-berüchtigt ist: Angriffslust.

In der SRF-Talksendung «Gredig direkt» wettert die streitbare Feministin aus Deutschland über die Schweiz, genauer: über eine Änderung im Zivilgesetzbuch. Seit dem 1. Januar 2022 kann hierzulande jede Person ihr eingetragenes Geschlecht unbürokratisch ändern lassen.

Das findet Alice Schwarzer heikel. Und so behauptet die Co-Autorin einer Streitschrift zu Transsexualität, die vor wenigen Monaten erschienen ist: «Das Ganze hat Dimensionen angenommen, die nicht zu beschreiben sind. Wir weichen die Kategorie Geschlecht auf!»

Der Feminismus wird entsorgt

Die Auflösung der Geschlechter: Davor warnt auch Sara Rukaj. In ihrem kürzlich veröffentlichten Buch «Die Antiquiertheit der Frau» sieht sie ebendiese als Opfer zerfliessender Geschlechter-Grenzen. Und vom Verschwinden bedroht.

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Sara Rukaj über die Unterschiede der Geschlechter
Aus Kulturplatz vom 14.09.2022.
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Es sei zwar «schön zu sehen, dass Menschen sensibilisiert werden für die Probleme von Transpersonen». Das dürfe aber «nicht um jeden Preis» geschehen, meint die Philosophin und Psychologin im Gespräch. Denn es gebe Unterschiede zwischen den Geschlechtern. Und wenn man diese verneine, «kann man den Feminismus ja gleich entsorgen».

Der Feminismus wird vielfältig

Ganz anders sieht das Aqua:Tofana. Die Rapperin versteht sich ebenfalls als Feministin – obwohl, ja gerade, weil sie Genderfluidität propagiere. Nicht ohne Grund gliedert das Schriftzeichen für Geschlechtervielfalt ihren Namen: der Gender-Doppelpunkt. (Der übrigens in ihrem Fall weibliche Pronomen erlaubt.)

Im Song «Flüssig» lässt sich Aqua:Tofana nicht auf ein bestimmtes Geschlecht beschränken. Vielmehr sprengt sie die Unterscheidung Mann–Frau: «Niemand bringt mich in eine Form, denn ich bleibe flüssig.» Und: «Wir sind alle flüssig».

Die Absolventin der Zürcher Hochschule der Künste spielt mit Geschlechter-Zuschreibungen – und vermischt gezielt Kleider und Accessoires, die gemeinhin als weiblich oder männlich interpretiert werden.

So trägt sie feinen Schmuck und klobige Turnschuhe, Nagellack und Baggyjeans. Mit diesem Stil will sie Erwartungshaltungen unterlaufen, «das Fluide» betonen.

Anonym aus Eigenschutz

Ihr auffälligstes Merkmal ist eine gehäkelte Sturmmaske, inspiriert vom bekannten feministischen Kollektiv Pussy Riot. Die Kunstaktivistinnen aus Russland treten oft mit Sturmmaske auf. In ihren (Punk-)Songs üben sie scharfe Kritik an Wladimir Putins Politik und sprechen sich dezidiert für die Gleichberechtigung jeglicher Geschlechter aus.

Die Maske dient Aqua:Tofana, anonym zu bleiben. Sie weiss zwar, dass sich ihr bürgerlicher Name recherchieren lässt, doch ihre Texte ecken an. Deshalb will sie die Identität nicht verraten. Und hat stattdessen ein provokantes Pseudonym gewählt: Aqua Tofana bezeichnet eine tödliche Giftmischung.

Mit Schnauz in die Frauenbadi?

In ihre Definition von Frau schliesst die Rapperin Transfrauen ein – und damit Menschen, deren Geschlecht bei der Geburt als männlich eingestuft wurde, die sich aber als Frau identifizieren. Eine solche Konstellation sorgte in diesem Sommer für Schlagzeilen.

Wie zuerst die NZZ berichtet hat, forderte eine Person mit Schnauz Zutritt zur Zürcher Frauen-Badeanstalt. Sie wies sich offiziell als Frau aus. Doch da das Personal den potenziellen Gast aufgrund der Äusserlichkeit als Mann las, verwehrte es ihm den Einlass.

Dieses Ereignis mag ein Einzelfall sein. Es zeugt aber von der Unsicherheit, die im Umgang mit Transmenschen herrscht. Auch bei Feministinnen.

Streiken, doch für wen?

Ob die bald 80-jährige Alice Schwarzer, die 30-jährige Sara Rukaj oder die 23-jährige Aqua:Tofana – sie alle setzen sich für Frauenrechte ein. Allerdings: Was Frau heute bedeutet und wer sich so nennen darf, darüber ist eine mitunter heftige Debatte entbrannt.

Lange einte der Begriff Frau den Feminismus. Im Vordergrund stand der Kampf gegen Diskriminierung in einer patriarchalen Gesellschaft. Er war eng geknüpft an die klassische Geschlechter-Trennung weiblich–männlich.

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Was bringt das Gendern wem?
aus Kultur-Talk vom 23.09.2022. Bild: IMAGO / Christian Ohde
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Geprägt durch Judith Butler

Gegen Ende des 20. Jahrhunderts erweiterten Genderfeministinnen das Verständnis von Frau – hin zu Menschen, denen Weiblichkeit zuvor oft (eher) abgesprochen worden war.

Geprägt hat sie dabei namentlich Judith Butler. In ihrer Schrift «Das Unbehagen der Geschlechter» entkoppelt die US-amerikanische Philosophin 1990 die Geschlechtsidentität von körperlichen Eigenschaften.

Dieser Öffnung verschreibt sich auch der Schweizer Frauenstreik, der mittlerweile feministischer Streik heisst. Beim nationalen Protesttag 2019 erachtete er jede Person als Frau, die sich als solche identifiziert, unabhängig von biologischen Merkmalen.

Eine halbe Million Menschen nahm daran teil. Doch ob alle dieselbe Vorstellung von Frau hatten? Zweifel sind angebracht.

Uneinheitliches Bild

Die Genderforscherin Dominique Grisard beobachtet zwei Lager im Feminismus: Eines befürworte das Konzept der «sogenannt biologischen Frau», das andere «eine geschlechtliche Vielfalt».

Interessant zu erfahren wäre, wie sich die beiden Fraktionen nach Alter, sozialem Milieu oder politischer Überzeugung gliedern lassen. Im Rahmen unserer Recherche sind wir jedoch auf keine entsprechende Studie (für die Schweiz) gestossen.

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Aus dem Archiv: Judith Butler: «Das Unbehagen der Geschlechter»
aus Reflexe vom 20.07.2012.
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Die Vermutung liegt nahe, dass wertkonservative Kreise Judith Butlers Position mit Skepsis begegnen. Das tut aber auch Sara Rukaj – und sie versteht sich als «marxistische Linke». Generell gibt es bei der Linken progressive und bewahrende Stimmen. Und dazwischen Abstufungen.

Genauso lassen sich unter Jungen und Älteren variierende Meinungen finden. Das Bild, wer welchem Lager zuneigt, scheint also kein einheitliches zu sein.

Dramatisierte Differenzen

Diese unterschiedlichen Perspektiven führen seit Jahren immer wieder zu Konflikten, zumal mit der «Vervielfältigung der Geschlechterformen», so Dominique Grisard, «eine stärkere Dramatisierung von Geschlechterdifferenzen» einhergehe.

Die Historikerin am Zentrum für Gender Studies an der Universität Basel macht eine «Verunsicherung» in der Gesellschaft aus. Viele Menschen wollen weltoffen sein – und sind gerade deswegen mit für sie teils neuen Vorstellungen von Geschlecht konfrontiert. Da müssen sie sich zuerst orientieren.

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Dominique Grisard über zwei Lager von Feministinnen
Aus Kulturplatz vom 14.09.2022.
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So war es schon immer! Versus: So soll es nicht mehr sein! – Angesichts dieser Pole lautet die zentrale Frage: Bewahrung oder Befreiung von Normen? Und damit: Braucht es zur Frau einen biologischen Kern? Oder ist Frau mehr ein Gefühl, losgelöst von festgeschriebenen Körpereigenschaften?

Umgang mit Gräueltaten

Sara Rukaj geht in ihrem Buch wiederholt darauf ein – in einer eigentümlichen Mischung aus intellektuell anspruchsvollen und polemisch zugespitzten Passagen. Sie kommt zu einer klaren Antwort, erst recht, da Frauen gerade wegen ihres Körpers Diskriminierung und Übergriffe erleiden müssten.

«Abtreibungsverbote, Zwangsverschleierung, Genitalverstümmelung oder gar Femizide haben mit dem weiblichen Geschlecht und der Gebärfähigkeit der Frau zu tun. Wenn man nun behauptet, es gebe kein biologisches Geschlecht, werden diese Probleme unter den Tisch gekehrt!», so Rukaj.

Buchhinweis

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Sara Rukaj: «Die Antiquiertheit der Frau. Vom Verschwinden des feministischen Subjekts». Edition Tiamat, 2022.

Genau das passiere nun durch die vereinfachte Änderung des eingetragenen Geschlechts. Dürfe sich eine Person, die optisch als Mann gelesen werde, als Frau bezeichnen, bringe das den weiblichen Körper zum Verschwinden, glaubt die gebürtige Österreicherin.

«Irgendwas ist mit dir falsch»

Aqua:Tofana ist gegenteiliger Meinung. Auch der Gender-Feminismus brauche das Wort Femizid. Nur der Bezugspunkt sei ein anderer: Er schliesse Transfrauen ein, aber nicht auf Kosten der Frau im Sinne Rukajs. «Für mich bedeutet Vielfalt nicht, dass etwas anderes wegfällt, sondern, dass etwas dazukommt.»

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Acqua:Tofana über den Begriff Vielfalt
Aus Kulturplatz vom 14.09.2022.
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Die Rapperin weiss aus eigener Erfahrung, was es heisst, sich für ihr Wesen rechtfertigen zu müssen. «Schon als kleines Mädchen wurde mir gesagt, ich sei zu laut.» Sie habe in der Jungs-Abteilung Kleider gekauft und sich für Autos interessiert. «Es wird einem dann zu spüren gegeben: Irgendwas ist mit dir falsch.»

Plötzlich viel mehr Sinn

Als Reaktion darauf habe sie sich in der Pubertät «sehr ins weiblich Konnotierte gestürzt», mit 20 allerdings begonnen, ihren Weg zu reflektieren. So kam sie dem (Gender-)Feminismus näher. «Und dann hat die Welt – oder meine Identität – plötzlich viel mehr Sinn ergeben.»

Trotzdem verspüre sie noch heute manchmal «Angst vor der Reaktion anderer».

Aufgeflammter Streit

Ausloten, was mit Frau gemeint ist: Dieses Ringen um den Körper ist auch ein Kampf um Worte. Teile der Gender- und Queer-Community fordern Formulierungen wie «menstruierender Mensch» oder «Person mit Vulva» anstelle von Frau.

Dürfen wir Frau also gar nicht mehr sagen? Mit dieser Frage sah sich 2020 Joanne K. Rowling konfrontiert. Die Schöpferin der «Harry Potter»-Romanreihe gelangte auf Twitter in einen Shitstorm. «Menschen, die menstruieren? Ich bin sicher, früher gab es ein Wort für diese Menschen», kommentierte sie einen Tweet. Und erntete dafür prompt den Vorwurf der Transfeindlichkeit.

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Aus dem Archiv: Transphobie-Vorwürfe gegen Rowling
Aus Gesichter & Geschichten vom 23.11.2021.
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Rowling beeilte sich klarzustellen, nichts gegen Transmenschen zu haben, dafür umso mehr etwas gegen Ausdrücke, die das biologische Geschlecht verneinten. Seither ist im Netz der Streit mehrmals aufgeflammt, ob die Autorin transphob sei – oder eben gerade nicht.

Gleichberechtigung: Ja, aber …

Unabhängig davon: Erodiert mit Frau der zentrale Begriff des Feminismus, ausgelöst durch Feministinnen selbst?

Sara Rukaj bejaht – mit einer rhetorischen Gegenfrage: «Wie soll man künftig noch für Frauenrechte kämpfen, wenn Geschlecht keinen realen Bezugspunkt mehr hat und die Frau – als hätte sie keinen Verstand – bloss über einzelne Körperteile und Körpervorgänge definiert wird?»

Sie kommt zum Schluss: «Queer-Ideologen können sich gerne mit Transpersonen beschäftigen», sie sollten indes «nicht versuchen, den klassischen Feminismus zu delegitimieren».

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Aus dem Archiv: So sah Schweizer Feminismus vor 150 Jahren aus
aus Kultur kompakt vom 20.04.2022. Bild: SRF / Sebastien Thibault
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Derweil wiederholt Aqua:Tofana ihren Standpunkt: Frauen in Sara Rukajs Verständnis seien «genauso wichtig in unserem Feminismus wie die anderen Gender». Und fragt ihrerseits rhetorisch: «Wer sich als Feministin bezeichnet, will ja die Gleichberechtigung für alle Geschlechter. Und dann schliesst man Trans-Frauen oder -Männer aus?»

Wer darf in welche Kabine?

Das Frage-Ping-Pong führt zurück zum Vorfall in der Frauen-Badi: Sollen Menschen, die sich als Frau sehen, aber männliche Züge tragen, fortan Zutritt erhalten?

Die Fachstelle für Gleichstellung in der Stadt Zürich hat zusammen mit dem Sportamt einen Leitfaden entwickelt. Für alle Badeanstalten empfiehlt dieser Transfrauen die Frauen- und Transmännern die Männerumkleidekabine. Das schliesst freilich bei Irritationen in der Frauenbadi nicht aus, dass das Personal mit allen Involvierten nach einer individuellen Lösung sucht.

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Nennt mich Soraya – Start in ein neues Leben (1/2)
Aus DOK vom 31.07.2023.
Bild: SRF abspielen. Laufzeit 50 Minuten 5 Sekunden.

Die Rapperin Aqua:Tofana kann Bedenken bisheriger Besucherinnen nachvollziehen, plädiert jedoch für den Einlass. Sonst würden Transfrauen bloss noch mehr diskriminiert.

Sara Rukaj geht dies zu weit. Sie begrüsse zwar Räume für Transmenschen. Sie sollten indes «davon ablassen, die Schutzräume von Frauen einnehmen zu wollen».

Gefahr der Polemik

Und die Forschung? Dominique Grisard von der Universität Basel hat «kein Patentrezept». Ihr ist bewusst: Je nach Gewichtung der Argumente fühlt sich eine Seite vor den Kopf gestossen. Umso mehr versucht sie zu vermitteln: «Wichtig ist, dass man diskutiert.»

Solange die Debattenkultur gesittet verläuft, zeugt sie von einer intakten Gesellschaft. Dazu gehöre, dass in der aktuellen, teils «sehr polarisierten Zeit» ein Dissens bleiben könne, gibt die Genderforscherin zu bedenken.

Ausbleiben sollen dagegen Polemik und Diffamierung. Im Interesse aller.

SRF 1, Kulturplatz, 14.09.2022, 22:25 Uhr

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