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Gegen die Beschleunigung Warum haben wir ständig keine Zeit, Hartmut Rosa?

Dank der Technologie können wir immer mehr in immer weniger Zeit erledigen. Doch obwohl wir so hochtourig leben wie nie zuvor, stellt sich die grosse Ruhe nicht ein.

Der Beschleunigungstheoretiker Hartmut Rosa erklärt, woher diese Rastlosigkeit kommt und was gegen sie hilft.

Hartmut Rosa

Soziologe

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Hartmut Rosa ist Soziologe und Politikwissenschaftler. Er lehrt an der Friedrich-Schiller-Universität Jena, ist Direktor des Max-Weber-Kollegs der Universität Erfurt und Mitherausgeber der Fachzeitschrift «Time & Society». Er hat verschiedene Bücher zum Thema Beschleunigung veröffentlicht.

Foto: Jürgen Scheere

SRF: Wir sparen dauernd Zeit, essen zum Beispiel Fastfood und kaufen Staubsaugroboter. Trotzdem haben wir zu wenig Zeit. Warum?

Hartmut Rosa: Je reicher eine Gesellschaft wird, umso stärker scheint der Zeitwohlstand zu sinken und die Zeitnot zuzunehmen. Denn materieller Wohlstand bedeutet, dass wir mehr produzieren und konsumieren. Das gilt nicht nur für Dinge. Wir haben auch viel mehr Kontakte und Möglichkeiten. Das führt dazu, dass wir für jedes Einzelding weniger Zeit haben.

Dabei würde man denken, dass zum Beispiel Menschen, die drei Stunden zu Fuss gehen müssen, um Wasser zu holen, ärmer an Zeit sein müssten als wir. Wir können einfach den Wasserhahn aufdrehen.

Im Prinzip ist das so. Man kann die Geschichte der Moderne als Geschichte des Zeitsparens erzählen. Es gibt kaum eine Technologie, die uns nicht Zeit einspart. Beispiel Fortbewegung: Mit dem Auto ist man in zehn Minuten da, zu Fuss braucht man über eine Stunde.

Die Menge der Dinge, die wir erledigen, ist gestiegen.

Ich spare also tatsächlich Zeit. Wenn wir gleich viel täten wie noch vor 100 oder vor 200 Jahren, dann hätten wir einen Zeitwohlstand.

Woher kommt also die wahrgenommene Zeitnot?

Ich kann das nur so erklären, dass die Menge der Dinge, die wir erledigen, noch schneller gestiegen ist: Wenn ich eine E-Mail doppelt so schnell wie einen Brief schreibe, aber fünfmal mehr E-Mails schreibe, als ich früher Briefe geschrieben habe, nimmt meine Nettozeit ab.

Wir sind eine Gesellschaft, die sich nur im Steigerungsmodus erhalten kann.

Müssen wir uns immer beschäftigen, weil wir uns sonst abgehängt fühlen?

Es gibt diese Instagram-Logik, dass ich mich ständig als beschäftigt und damit als spannend darstellen muss. Das hat aber auch strukturelle Gründe: Wir sind eine Gesellschaft, die sich nur im Steigerungsmodus erhalten kann.

Das erzeugt eine Art inneren Zwang. Wir haben diese notorische Unruhe und das Gefühl, mit uns stimme etwas nicht, wenn wir nicht permanent eine volle To-do-Liste haben.

Sie sprechen in diesem Zusammenhang von einem Beschleunigungsbedürfnis der Moderne. Woher kommt das?

Es hat weniger mit der Gier zu tun, immer mehr zu wollen, als vielmehr mit der Angst, dass man das Bestehende nicht erhalten kann. In den sozialen Medien geschieht das ganz schnell. Wenn ich das nicht bediene, dann erlischt die Flamme und ich bin nicht mehr mit dabei. Das heisst: Ich muss ununterbrochen liefern, damit ich bleiben kann, wo ich bin.

Der Zwang, sich zu steigern, ist in das System eingeschrieben.

Der Kapitalismus ist ein Wirtschaftssystem, das auf Steigerung beruht: Zeit wird Geld, das heisst, Zeit kriegt einen ökonomischen Wert und wird damit teuer. Das treibt die Beschleunigung an. Zudem kommt die ökonomische Aktivität nur in Gang, wenn es die Aussicht auf Gewinn gibt. Der Zwang, sich zu steigern, ist in das System eingeschrieben.

Wobei manche Menschen sich auch Zeit kaufen, indem sie sich etwa eine Reinigungskraft oder Essenslieferdienste leisten.

Was man dabei ausser Acht lässt, ist die Frage nach der Qualität von Zeit. Das ist mir in einer Radiodiskussion bewusst geworden, in der es um Musse ging.

Rasenmähen bringt mich hinaus ins Leben.

Damals rief ein Hörer an und sagte, er erlebe Musse zum Beispiel beim Rasenmähen. Da hab ich gemerkt, dass mir das auch so geht. Wenn ich hinter dem Mäher herlaufe, bin ich intensiv in der Welt, habe aber die Gedanken frei für alles Mögliche.

Diese Tätigkeit, die ich auch einen Roboter oder einen Gärtner machen lassen könnte, bringt mich hinaus in die Welt und ins Leben. Sie gibt mir Zeit und mentale Freiheit.

Viele stressen sich mit ihrem Leistungsdenken selbst. Müsste man da nicht an die Eigenverantwortung appellieren?

Ich finde es problematisch zu sagen, dass man selbst schuld ist, weil man sich selbst zu sehr stresst oder die Prioritäten nicht richtig setzt. Untersucht man nämlich, wo das Stress-Erleben herkommt, stellt man fest, dass es keine Frage der Ressourcen ist.

Menschen kommen vielmehr in Stress, wenn sie das Gefühl haben, alles gleichzeitig machen zu müssen. Das ist ein sogenanntes Sequenzierungsproblem: Das Kind ruft aus dem Zimmer, gleichzeitig ist die Mutter am Telefon und gerade hat der Chef eine dringende E-Mail geschrieben.

Es geht also gar nicht um die Arbeitsmenge, sondern um Zeitstrukturen?

Genau, und diese Strukturen sind nichts Individuelles. Die Art, wie wir mit Zeit umgehen, die Zeitstrukturen, Zeitmuster und Erwartungsstrukturen, sind kollektiv verankert. Die werden richtig zur Gewohnheit. Da liegt der grosse Fehler im Ruf nach Eigenverantwortung.

Können Sie ein Beispiel nennen?

Nehmen wir das Thema Nachrichten: Vor ein paar hundert Jahren brauchten wir keine Nachrichten, weil wir die Welt kannten. Dann gab es irgendwann die Tageszeitung, weil Menschen das Gefühl hatten, wissen zu müssen, was so passiert.

Wir müssen wieder lernen, uns von einer Sache packen zu lassen.

Später kamen die stündlichen Nachrichten dazu, denn die Welt macht keine Pause. Inzwischen laufen die Nachrichtensendungen auf den Infokanälen jede Viertelstunde. Das erzeugt ein anderes kollektives In-der-Zeit- und In-der-Welt-Sein. Es ist schwierig, sich dem zu entziehen.

Viele versuchen dem Stressgefühl mit Achtsamkeitstraining zu entfliehen. Eine gute Idee?

Ich habe Vorbehalte gegen die Achtsamkeitsideologie, weil es dabei so stark ums Subjekt geht: Ich muss etwas tun, ich muss wahrnehmen, ich muss spüren. Doch ich glaube, das Leben gelingt in dem Moment, in dem ich gar nicht etwas tue, sondern mich anrufen lasse von etwas, was da draussen ist.

Wir müssen wieder lernen, uns von einer Sache packen zu lassen. Das bringt davon weg, zu fragen, was ich spüre und was ich will, weil ich völlig überwältigt bin. Das sind die glücklichen Momente, und das ist eine andere Erfahrung als die der Achtsamkeit.

Das Gespräch führte Barbara Bleisch in der «Sternstunde Philosophie».

(Dieses Interview ist ein Auszug aus der «Sternstunde Philosophie » . Die Fragen und Antworten wurden bearbeitet und gekürzt.)

Radio SRF 2 Kultur, 08.01.2022, 07:30. ; 

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