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Weibliche Wut – Vom Umgang mit einem verpönten Gefühl
Aus Input vom 08.11.2023. Bild: Reuters
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Gender und Psychologie Weibliche Wut: über das Potenzial eines verpönten Gefühls

Wut gilt als unbeliebte Emotion – gerade bei Frauen, wie Studien nahelegen. Wie gelingt ein konstruktiver Umgang damit?

«Ich will wütend werden können.» «SRF Input»-Hörerin Stefanie ist Mitte 20, hat einen spannenden Job, lebt in einer Beziehung – und vermisst eine ganz bestimmte Emotion: «In Situationen, in denen ich eigentlich wütend werden möchte, kommen mir die Tränen.»

Wenn sich ihr Freund zum Beispiel nicht an Abmachungen hält, wird sie traurig – und in der Folge von ihm getröstet. Wenn sie sich im Job übergangen, ungerecht behandelt oder nicht gehört fühlt, zieht sie sich zurück. «Dabei will ich eigentlich das Gegenteil: Ich will meinem Ärger Raum geben, standhaft sein und meinen Punkt klarmachen!»

Stefanie erinnert sich nicht daran, wann sie das letzte Mal richtig wütend war. Und sie will das ändern.

Mehr als Klischees: Männer zeigen Wut, Frauen Tränen

Mit dieser Gefühlsunterdrückung ist Stefanie nicht allein: «Männer zeigen Wut im Schnitt häufiger als Frauen. In alltäglichen Situationen der Ohnmacht beispielsweise tendieren Männer dazu, zu fluchen.» Dies ist der Befund von Ad Vingerhoets, Professor für klinische Psychologie an der Tilburg Universität in Holland, nach 40 Jahren Forschung. «Frauen hingegen werden in diesen Momenten nicht wütend, sondern beginnen tendenziell zu weinen.»

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«Heul doch!» – Ein Plädoyer für Männertränen
aus Input vom 15.03.2023. Bild: Keystone
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Wichtig ist an dieser Stelle der Hinweis, dass es sich hierbei um Durchschnittswerte handelt. Neben dem Peak dieser Verhaltenskurven gibt es auch die nicht stereotypen Beispiele: Männer, die weinen, wenn sie an eine Grenze stossen. Und Frauen, die wütend werden.

Das konstruktive Potenzial der Wut

Wut habe zu Unrecht einen schlechten Ruf, findet Psychologin und Wut-Coach Maja Herold. «Meine Patienten und Patientinnen wollen nicht wütend werden. Zu gross ist die Angst davor, die Kontrolle über die Wut zu verlieren, jähzornig oder gar gewalttätig zu werden. Sehr oft unterdrücken sie deshalb das Gefühl.»

Wut ist eine Emotion, die mir nicht vertraut ist. Ich kenne das Gefühl schlicht nicht.
Autor: Stefanie «Input»-Hörerin

Dabei liege in der konstruktiven Wut ein grosses Potenzial: Sie diene der Abgrenzung auf der einen Seite – und ermögliche andererseits Annäherung, sagt Herold. Aber nur, wenn der Umgang mit der Wut gelernt wurde. Das sei enorm wichtig, denn: «Wut ist eh da, auch wenn wir sie unterdrücken. Sie ist unumgänglich.»

Herold unterscheidet zwischen roter und grüner Wut. Rote Wut sei die impulsive, destruktive Kraft, die gewaltvoll sein kann und an anderen oder sich selbst Schaden anrichten kann. Die grüne Wut hingegen habe einen konstruktiven Charakter.

Wut: eine Definition

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  • Wut ist eine primäre Emotion, das heisst: Sie ist – wie Trauer, Freude oder Ekel – in allen Menschen vorhanden und ...
  • der zur Wut gehörende Gesichtsausdruck wird über alle Kulturen hinweg verstanden. Auch Primaten äussern ihre Wut auf eine ähnliche Art wie Menschen.
  • Wut geht mit psycho-physiologischen Reaktionen einher: Im Blut wütender Menschen steigen sowohl der Adrenalin- als auch der Testosteronspiegel an, was viel Energie freisetzt. Der Körper macht sich bereit: zur Flucht, zum Kampf – oder er erstarrt.
  • Kinder erleben um das zweite Lebensjahr herum eine Häufung von Wut, in der sogenannten Trotz- oder Autonomiephase.
  • Unterdrückte Wut kann zu Erkrankungen in den Herzkranzgefässen führen. Menschen, die sehr viel Wut erleben, haben ein grösseres Risiko für erhöhten Blutdruck. Und sie kann zu psychischen Erkrankungen wie Depressionen führen.

Quellen: Maja Herold, Psychologin und Wut-Coach / Medizinisches Wörterbuch «Pschyrembel»

Eine Frage der Übung

«Input»-Hörerin Stefanie sagt über ihre Wut: «Das ist eine Emotion, die mir nicht vertraut ist. Ich kenne das Gefühl schlicht nicht.» Es sei sinnvoll, sich mit der Wut vertraut zu machen, entgegnet Wut-Coach Herold. «Auch Stefanie ist biologisch in der Lage, Wut zu verspüren.» Das sei eine Frage der Übung.

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Wut – eine Emotion bestimmt unsere Gesellschaft
Aus Einstein vom 24.01.2019.
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Der Schlüsselbegriff aus der Psychologie dazu lautet «Containment», was mit «Haltefähigkeit» oder «Beherrschung» übersetzt werden kann. «Wenn meine Patienten und Patientinnen gelernt haben, ihre Wut zu containen, kann ihnen das zu einem selbstbestimmteren Leben verhelfen.»

  • Wie sieht Wut aus? Der erste Schritt, so Psychologin Maja Herold, sei, sich mit der Wut als Emotion vertraut zu machen. «Das kann man auf spielerische Art und Weise tun, indem man sich Bilder wütender Tiere anschaut.» Dabei könne man sich fragen, wie ein wütendes Gesicht aussieht. Herold rät ihren Patientinnen dazu, sich die Bilder in den eigenen vier Wänden aufzuhängen.
  • Umfeld einbeziehen: Es bietet sich an, sich im vertrauten, privaten Kreis über das Thema zu unterhalten. «Im besten Fall nimmt man Freunde, die Partnerin, Familienmitglieder mit ins Boot, indem man erklärt, dass man Wut als Emotion üben will.»
  • Körper wahrnehmen: In Situationen, in denen die eigenen Grenzen überschritten oder Vereinbarungen nicht eingehalten wurden und man beispielsweise – wie in Stefanies Fall – den Tränen nah ist, hilft es, den Körper abzuklopfen: «Dann kann es sein, dass die Trauer der Wut weicht.» Wut als körperliche Emotion könne dadurch «geweckt» werden. Hilfreich sei dafür auch die Affirmation: «Ich bin wütend und das ist okay so.» Auch vertraute Menschen können mit diesem Satz reagieren.
  • Gefühle hinterfragen: Je nachdem, wie man familiär und gesellschaftlich sozialisiert wurde, habe man unterschiedliche «Lieblingsgefühle». «In Momenten, die eigentlich Wut auslösen sollten, reagieren wir mit Tränen, wir lachen oder reagieren mit Scham.» Jede und jeder kann das bei sich beobachten und hinterfragen: «Meine ich wirklich dieses Gefühl? Oder liegt ein anderes darunter?»
  • Energie aus Wut: Wut als stark körperliche Kraft brauche ein Ventil: «Um konstruktiv damit umgehen zu können, rate ich meinen Patientinnen, die Wut in Energie zu verwandeln», sagt Herold. Beim Joggen kann einem klar werden, warum man so wütend wurde.
  • Kopf abkühlen: Herold rät, Dinge nicht mit einem heissen, wütenden Kopf zu klären. Es sei ratsam, sich Zeit zu lassen, wenn man wütend ist, und dem Gefühl Raum zu geben.
  • Wut zulassen: Dasselbe gelte auch für den Umgang mit wütenden Kindern: «Wenn wir Kindern beibringen, dass sie wütend sein dürfen, ohne jemanden zu verletzen, lernen sie das Wut-Containment schon früh», sagt Herold. Man könne Kleinkindern die eigenen Hände flach hinhalten, damit sie lernen, ihrer Wut in Form von Kraft Raum zu geben. «Wut gehört in eine gesunde Beziehung, Kinder können das so lernen.»

Mit klarem Kopf kann schliesslich das Annäherungspotenzial der Wut zum Zug kommen – und man kann dem Gegenüber den Grund für den Ärger sachlich vorbringen und das Gespräch suchen. «Darin liegt das Annäherungspotenzial der Wut», schliesst Herold.

Wut und Gender – messen wir mit zweierlei Mass?

Offen bleibt allerdings die Frage nach dem gesellschaftlichen Umgang mit Wut und den Geschlechtern. Studien aus den USA legen nahe, dass mit weiblicher Wut anders umgegangen wird als mit männlicher. Wenn Frauen ihre Wut offen zeigen, kann ihnen das in alltäglichen oder öffentlichen Situationen zum Nachteil gereichen.

Es ist angezeigt, auch Kindern schon früh zeigen, dass weibliche Wut berechtigt ist.
Autor: Maja Herold Psychologin

In einer Studie aus dem Jahr 2014 im Rahmen einer inszenierten Geschworenenversammlung gaben Studienteilnehmende häufiger an, dass wütende Männer überzeugend seien. Wütende Frauen hingegen nicht – bei exakt gleichem Text und gleichen Argumenten.

Was machen wir damit? «Frauen müssen dranbleiben», sagt Wut-Coach und Psychologin Maja Herold. «Sie müssen ihrer Wut vertrauen, um ihre Grenzen zu wahren. Nur wenn Frauen spüren, was für sie nicht stimmt, können sie sich gesund abgrenzen und mit eigenem klaren Standpunkt in die Diskussion gehen. Unabhängig vom eigenen Geschlecht ist es angezeigt, auch Kindern schon früh zeigen, dass weibliche Wut berechtigt ist.»

Input-Autorin Julia Lüscher fragt sich künftig angesichts des oben genannten Studienresultates ausserdem: «Urteile ich anders über wütende Frauen als über wütende Männer? Wie würde ich reagieren, wenn das Gleiche ein wütender Mann gesägt hätte?»

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Tut Wut gut? Gerichtspsychiaterin Heidi Kastner im Gespräch
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Radio SRF 3, Input, 12.11.2023, 20:03 Uhr

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