Irgendein Schlaufuchs hat ausgerechnet, dass der Silicon-Valley-Pendler 37 Stunden pro Jahr im Stau sitzt. Im Schnitt. Wenn er es weit hat oder einfach Pech, sind es viel, viel mehr. Weil sich kaum ein Normalverdiener das Leben hier im ruhmreichen Tal der technischen Innovation noch leisten kann. So werden die Distanzen zwischen Wohnort und Arbeitsplatz immer grösser.
Im Schatten der Innovation
«Zu viele reiche Leute produzieren eine Menge arme Leute», meint Jake, ein hagerer 57-Jähriger «Wenn die so viel Geld ohne nachzudenken ausgeben können, steigen die Preise.» Seit vier Jahren ist er obdachlos, lebt in seinem alten Auto. Jeden Abend muss er sich ein Plätzchen suchen. «Gar nicht so einfach», berichtet Jake. Parken sei eigentlich überall verboten, das Campieren im Auto allemal.
Jake steht, mit vielen anderen Bedürftigen, vor der Essenausgabe des «Sacred Heart Community Service», einer Art Sozialstation auf der 1st Street von San José. Auf grossen Metalltischen sortieren Helfer Kartoffeln, Orangen, Äpfel, Kohl, Zucchini. Es gibt Brot, Dosenware, auch Milch, Eier, Fleisch. In der langen Schlange der Bedürftigen stehen Menschen aller Hautfarben, schreiende Kinder und schlurfende Greise. Das «Sacred Heart» bietet eine Kleiderkammer und Hilfe bei der Suche nach Arbeit und Wohnraum. 350 Familien pro Tag werden hier versorgt, über 1000 Menschen.
Ein Mikrokosmos einer gespaltenen Nation
Die Reichsten sind in den USA reicher als in vielen Ländern der westlichen Welt. Und die Ärmsten ärmer. Das Silicon Valley an der amerikanischen Westküste ist der wohl extremste Mikrokosmos dieser sich tiefer spaltenden Nation. Weil man hier noch viel schneller noch viel tiefer fällt. Weil Menschen in ganz normalen Jobs – Hausmeister und Kindergärtnerinnen, Fahrer, Lehrer, Kellner – hier selbst mit Überstunden kaum genug verdienen, um eine Miete aufzubringen.
Auch die Gemeinden, sagt Poncho Guevara, Leiter von «Sacred Heart», zerfielen hier in superreich und bettelarm. «Man erkennt es schon am Strassenbelag. Gleich neben dem superreichen Cupertino, Hauptsitz von Apple, liegt das viel grössere und viel ärmere San Jose.»
Mythos und Realität – ein krasser Gegensatz
Guevara, nicht verwandt mit dem Revolutionär – «nur im Geiste», sagt er grinsend –, ist hier im Valley aufgewachsen. «Der Mythos lautet: Das hier ist das ganz grosse Ding, das die Welt verändert», meint er. «Aber die Realität für viele meiner Mitschüler war: Wir nehmen jeden Job, den wir kriegen können.» Oft war das nur ein ganzer normaler Arbeiter- oder Angestelltenjob. Und damit, ergänzt Guevara achselzuckend, «bist du hier eigentlich schon raus».
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Unter den Kunden von «Sacred Heart» trifft man viele, die einst ein anderes Leben hatten. Richard etwa, hier um die Ecke geboren, arbeitete bei Firmen wie Google und Facebook, montierte dort die Arbeitswaben in den Grossraumbüros. Bis er sich den Arm brach, berichtet Richard. Was nicht als Arbeitsunfall anerkannt wurde. «Da hingen keine Kameras. Ich konnte es nicht beweisen.» Er wurde von den Schmerzpillen abhängig. «Da kam ich nicht von runter. Und dann ging’s bergab.» Aktuell schläft er im Park hinter dem neuen Levi‘s Football-Stadion, knapp zehn Meilen nördlich von hier.
Den sozialen Abstieg vor Augen
Oder Brenda. Für sich und die beiden Söhnen hat sie 333 Dollar im Monat. Einst, erzählt die freundliche, müde Frau, habe sie in einer «Welt des Geldes» gelebt – mit Haus, gutem Job und «allen Kreditkarten». Bis die Scheidung kam. Sie ist froh, für sich und die Jungs endlich eine Sozialwohnung gefunden zu haben. Auch sie lebte vorher auf der Strasse.
Schicksale wie diese machen deutlich: Sobald ein Gehalt wegbricht, werden die Verhältnisse hier ruckzuck sehr prekär. Viele, die im Silicon Valley morgens und abends im Stau stehen, wissen dies, ahnen es zumindest. Und fluchen etwas leiser.