Die Wirtschaftswissenschaften sind in unserer Gesellschaft eine zentrale Disziplin. Ihre Modelle dienen nicht nur dazu, ökonomische Prozesse zu erklären, sondern werden auch herangezogen, wenn es um Problemfelder in anderen Gesellschaftsbereichen geht.
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So versucht etwa der Ökonom Bruno S. Frey, die Flüchtlingskrise mit einem ökonomischen Ansatz zu lösen : Flüchtlinge sollen im Einreiseland eine Aufnahmegebühr bezahlen – dafür können sie per Flugzeug einreisen und nach der Ankunft sofort Arbeit suchen.
Aber macht es Sinn, wirtschaftliche Modelle auf andere Bereiche anzuwenden? Ist die Wirtschaftswissenschaft in der Lage, auch hier Erkenntnisse zu liefern?
Mehr Zurückhaltung
«Bei den meisten gesellschaftlichen Problemfeldern kann die Ökonomie nicht zum Verständnis beitragen», sagt Frank Niessen. Er ist Doktor der Ökonomie, hat dem wirtschaftswissenschaftlichen Betrieb aber inzwischen den Rücken zugekehrt.
Er stellt die Modelle, auf denen die Ökonomie fusst, stark in Frage: «Mit den grundlegenden Annahmen der Mainstream-Ökonomie gelingt es ja noch nicht einmal, ökonomische Zusammenhänge zufriedenstellend zu erhellen. Wenn nun damit auch noch nicht-ökonomische Fragestellungen beantwortet werden sollen, würde ich mir seitens der Wirtschaftswissenschaft umso mehr Zurückhaltung wünschen.»
Problematisches Menschenbild
Problematisch sei das Menschenbild der Ökonomie, der «homo oeconomicus»: Viele Ökonomen gehen davon aus, dass der Mensch rational handelt und sich dabei an Anreizen orientiert. «Derart vereinfachende Annahmen scheinen mir der Komplexität menschlichen Verhaltens nicht gerecht zu werden», sagt Niessen.
Bei gesellschaftlichen Problem greifen ökonomische Erklärungsversuche folglich zu kurz. Wolle man Aussagen über andere Bereiche als die Wirtschaft machen, wäre ausserdem eine interdisziplinäre Zusammenarbeit nötig. Ökonomen müssten mit Soziologen oder Psychologen zusammenarbeiten. «Das scheint mir aber in diesen Bereichen, soweit ich das beobachten kann, nicht in angemessenem Umfang stattzufinden».
Kein Handeln ohne Anreiz
Die Idee, mit Marktprinzipien eine Antwort auf die Flüchtlingskrise finden zu wollen, hält auch der Soziologe Ueli Mäder für problematisch. Er sieht die Idee als Teil eines gesellschaftlichen Trends, der schon länger anhält: «In vielen Gesellschaftsbereichen kommen immer mehr materielle Anreize ins Spiel».
Das könne in gewissen Teilbereichen funktionieren, sagt Mäder. Wenn man zum Beispiel Menschen über einen Pfand dazu bringt, ihre Flaschen zurückzubringen. Aber grundsätzlich steht Mäder der Entwicklung skeptisch gegenüber: «Wenn man immer mehr auf Geld als Anreiz setzt, leidet die intrinsische Motivation». Das bedeutet: Man handelt nur noch, weil man sich davon einen Vorteil verspricht.
Die Ursache zur Lösung machen
Zudem könne die Konzentration auf dieses Nützlichkeitsprinzip – ich mache etwas nur dann, wenn es mir einen persönlichen Nutzen bringt – den Blick auf die Ursache von Problemen verstellen, sagt Mäder: «Wenn man bei Flüchtlingskrise schaut, was die Ursachen für die Flüchtlingsströme sind, sieht man, dass genau dieser finanzgetriebene Mechanismus zu den sozialen Ungleichheiten beiträgt.»
Versucht man nun also die Flüchtlingskrise mit den Mitteln des Marktes zu lösen, wendet man genau die Prinzipien an, die das Problem mitverursacht haben. «Das ist sehr kurzsichtig gedacht», sagt Mäder. «Um das Loch von heute zu stopfen, reisst man so einen Abgrund für morgen auf».