- Aus Tunesien ziehen viele junge Menschen in den Dschihad zur IS-Terrormiliz. Sie stammen keineswegs aus hoffnungslosen, marginalisierten Verhältnissen.
- Viele gehören der Mittelschicht an und hatten durchaus berufliche Chancen und Aussicht auf ein lebenswertes Leben.
- Die Eltern der jungen Rekruten stehen der Verführungskraft der IS-Ideologie hilflos gegenüber.
Vom Medizinstudium in der Schweiz ...
Die Geschichte klingt unwahrscheinlich, wie erfunden. Doch sie hat sich vor kurzem so in Tunis und Istanbul ereignet: Ein junger Mann aus gutem Haus macht seinen Maturabschluss und erhält ein Studienvisum für die Schweiz.
Er heisst Anouar Bayoudh. Sein Vater, Fathi Bayoud, ist Professor für Medizin und Leiter der Abteilung für Pädiatrie am Armeespital in Tunis.
... in den Krieg nach Syrien
Anouar Bayoudh reist in die Schweiz. Doch nicht, um Medizin zu studieren, sondern um sich der IS-Terrormiliz anzuschliessen. Gemeinsam mit seiner Freundin, die dasselbe Gymnasium in Tunis besucht hatte, zieht er weiter in die IS-«Hauptstadt» Rakka.
Die Eltern der beiden jungen Dschihad-Rekruten sind verzweifelt. Sie unternehmen alles, um ihre Kinder zur Rückkehr zu bewegen. Dazu nehmen sie die Hilfe der Organisation RATTA in Anspruch, abgeleitet vom Englischen «Rescue Association for Tunisian Trapped Abroad».
Es ist die einzige Nichtregierungsorganisation im gesamten Maghreb, welche den Eltern junger Dschihadisten beisteht und sich ansatzweise um die Wiedereingliederung der jungen Dschihad-Kämpfer bemüht.
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Der Vater stirbt bei Terroranschlag
Was Anouar und seine Freundin in Rakka erlebt haben, ist nicht bekannt. Doch dem Vater von Anouar gelingt es schliesslich, seinen Sohn dazu zu bewegen, wieder nach Tunesien zurückzukehren. Dieser war mittlerweile aus Syrien geflüchtet und befand sich in Gewahrsam der türkischen Behörden.
Doch als Vater Fathi Bayoud am 28. Juni 2016 nach Istanbul reiste, um dort seinen Sohn Anouar abzuholen, wird er Opfer des Terroranschlags im Atatürk-Flughafen. Diesem Anschlag fielen insgesamt 42 Menschen zum Opfer.
Ein gebildetes Elternhaus ist kein Schutz
Auch der Sohn von Sadok ist in den Dschihad gezogen. Vater Sadok, ein Herr Mitte sechzig, der seinen ganzen Namen nicht nennen mag, ist untröstlich.
Sadok hatte Ende der 1960er-Jahre in Lausanne studiert und nach eigenen Worten alles unternommen, um seinem Sohn eine Zukunft zu bieten. «Mein Sohn ist ein attraktiver junger Mann, der viel Sport betrieb und sich amüsierte wie die meisten anderen jungen Tunesier», erzählt Vater Sadok.
Der Einfluss ist mächtig
Kurz nach der Matura gerät der junge Mann jedoch unter den Einfluss einer islamistischen Organisation, die im Quartier aktiv ist. Als Sadok seinem Sohn einen Kredit in der Höhe von 200'000 tunesischen Dinars – etwa 100'000 Franken – zum Aufbau einer eigenen Firma vermitteln kann, lehnt der junge Mann kategorisch ab.
Es sei unislamisch, Kredite gegen Zins anzunehmen. Dabei bleibt er. Wenige Wochen später reist er heimlich via Algerien nach Istanbul und von dort nach Syrien.
Vater Sadok ist verzweifelt. Leider konnte ihm auch Mohamed Iqbal Ben Rejeb, der Präsident von RATTA, bis anhin nicht helfen.
Dschihadisten der Mittelschicht
Diese Fälle mögen ausserordentlich sein. Doch gerade in Tunesien, dem Land, das am meisten Dschihadisten «entsendet» hat, lässt sich beobachten, dass keineswegs alle Dschihad-Kämpfer aus hoffnungslosen, marginalisierten Verhältnissen stammen und aus purer Verzweiflung handeln.
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Viele gehören vielmehr der Mittelschicht an und hatten durchaus berufliche Chancen und Aussicht auf ein lebenswertes Leben. Diese Dschihad-Rekruten, so ist anzunehmen, sind der Verführungskraft der mörderischen IS-Ideologie zum Opfer gefallen.
Vieles weist darauf hin, dass der Attentäter von Nizza zu einer anderen Kategorie gehört: zu den «Verlierern», die sich stets am Rand der Gesellschaft bewegt haben und schon verschiedentlich mit dem Gesetz in Konflikt geraten sind.
Doch auch bei diesen Dschihad-Rekruten stellt sich die Frage, was letztlich den Ausschlag gegeben hat, den Hass auf die westliche Gesellschaft auf solche monströse Weise auszuleben.