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Niklaus Meienberg in einer Illustration mit Pullover, nachdenkend, die Hand am Kinn
Legende: «Ich erwartete einen Berserker, doch ich entdeckte einen ganz anderen Autoren» – Kaspar Surber über Meienberg. SRF/Cécilia Bozzoli

Gesellschaft & Religion Meienbergs Frage

Niklaus Meienberg war sprachgewaltig, doch es spricht nicht nur er selbst. Vielmehr liess er in seinen Texten Stimmen zu Wort kommen, die bisher niemand hören wollte. Er spielte als Historiker eine bedeutsame Rolle und seine Bücher haben das Geschichtsbild der Schweiz verändert.

«Wir sind doch hier kein Meienberg-Museum», meinte der Buchhändler, und verkaufte mir die Reportagenbände zu einem reduzierten Preis. Als ich als junger Journalist in St.Gallen zu arbeiten begonnen hatte, machte ich zuerst einen Bogen um Meienbergs Texte. Zu präsent war er mir kurz nach seinem Tod in den Gesprächen und in den Strassen der Stadt, von denen bald eine nach ihm benannt wurde. Doch nun erstand ich zufällig die Reportagenbände. Es ist immer besser, etwas heimlich für sich zu entdecken, ohne Anweisung.

Ich erwartete in den Texten einen Berserker, der es mit allen aufnimmt. Doch ich entdeckte einen ganz anderen Autoren: Meienbergs Texte fand ich über weite Strecken lustig. Und nicht nur polemisch, sondern einfühlsam. Das Buch über den Hitler-Attentäter Maurice Bavaud, den schüchternen Einzelgänger, der sich eine Pistole kaufte und nach Deutschland fuhr, wurde mein liebstes. «Es ist kalt in Brandenburg», im Titel klingt bereits an, worum es Meienberg bei seinen historischen Recherchen immer ging: Um eine Intervention in die Gegenwart. Das Buch und der Film handeln nicht nur vom Dritten Reich, sondern auch vom Umgang mit Terroristen in den 1970er-Jahren.

Seine Texte sind Collagen

Zur Person

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Kaspar Surber, 1980, arbeitete bis 2006 als Redaktor beim Kulturmagazin «Saiten» in St.Gallen. Seither ist er Journalist bei der Wochenzeitung «WOZ» in Zürich. Sein Buch «An Europas Grenze. Fluchten, Fallen, Frontex» über die europäische Migrationspolitik ist im Echtzeit-Verlag erschienen.

Meienberg war sprachgewaltig, das stimmt. Doch es spricht nicht nur er selbst. Vielmehr kommen Stimmen in seinen Texten zu Wort, die bisher niemand hören wollte: die Brüder des Landesverräters Ernst S. zum Beispiel, die über die Arbeitsverhältnisse in den Fabriken berichten. Meienbergs Texte sind Collagen: Zu den Stimmen der Brüder kommt ein Gutachten eines Gerichtspsychiaters über Ernst S. hinzu. Aus der Montage werden die Machtverhältnisse sichtbar: Wer profitiert? Wer verliert?

Die Ausstellung, die 20 Jahre nach seinem Tod über Meienberg in St.Gallen stattfindet, ist von Gesprächsrunden begleitet. Bisher wurde klar, dass Meienberg gerade als Historiker eine bedeutsame Rolle spielte, mit den Werken über Bavaud, Ernst S. und mit «Die Welt als Wille und Wahn» über den General im Ersten Weltkrieg. Sie haben das Geschichtsbild der Schweiz verändert. Aber es wurden auch Begrenztheiten von Meienbergs Texten sichtbar: Sie spielen in der Ordnung des kalten Krieges, noch nicht in einer globalisierten Ökonomie. Und sie sind zum Teil auch sexistisch.

Realität übertrifft die Erfindung

«La realité dépasse la fiction»: Dieser Satz, der Meienberg gefallen hat, bedeutet nicht nur, dass die Realität die Erfindung übertrifft, und deshalb der Journalismus mindestens so aussagekräftig ist wie die Literatur. Sondern dass die Beschreibung der Realität eine Herausforderung ist. In den Medien bestimmt derzeit als neutrale Währung die nächste News. Es gibt kaum eine Diskussion, wie die Realität überhaupt zu beschreiben wäre. Die Annäherung beginnt mit einer einfachen, klaren Frage, mit Meienbergs Frage: Wer spricht?

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