«Sous les pavés, la plage», «unter dem Pflaster liegt der Strand», schrieben die Pariser Studenten im Mai 1968 auf die Mauern der Stadt. Dieser Slogan kommt mir in den Sinn, wenn ich vor dem Cirque Electrique stehe.
Nicht nur, weil hier bei der Porte des Lilas am östlichen Stadtrand von Paris, eingezwängt zwischen einem Multiplexkino und der Stadtautobahn, die bunten Zirkuszelte fast wie ein Fremdkörper wirken – wie ein vergessenes Relikt aus einer anderen Welt. Sondern auch, weil es im Cirque Electrique genau darum geht: um das Aufsprengen des Asphalts, der unserem bürgerlichen Alltag die Bahn bereitet, um das Ausbuddeln des vergessenen Anderen, Fremden.
Um den Sand unter den Mainstream-Bahnen – der hier die Manege füllt.
Originell, leidenschaftlich und radikal
Von Identität, von einem eigenen Universum, einer persönlichen Lebensart sprechen die Zirkusbetreiber. Der Cirque Electrique will, wenn ich das richtig sehe, vor allem eines und fordert eines ein: ungeschützte Leidenschaft.
Mit eigenen Programmen, Festivals und Gastspielen verfolgt der Cirque Electrique sein ästhetisches Programm, das sich wenig schert um Grenzen zwischen den Genres: von der klassischen Zirkusnummer zum burlesken Cabaret, von der Multimedia-Performance zum Elektro-Punk, vom Einmannorchester zum Theorieseminar. Als «Cirk 'n' Roll» rubriziert sich das, und es muss in erster Linie eines sein: originell und radikal.
Mit Rimbaud gegen die Normen
Der Cirque Electrique entfaltet sich so in einem Spannungsfeld zwischen guter alter Artistik und einem neuen antibürgerlichen Lebensgefühl. Einer Modernität, die sich als radikaler Imperativ versteht, ganz wie es Arthur Rimbaud in einer berühmten Zeile formuliert hat: «Il faut absolument être moderne».
Im Juli beispielsweise manifestierte sich dies in einem Festival, das unter dem hübschen Namen «What the Fuck Fest***» dissidenten Sexualitäten und Genderqueer-Identitäten gewidmet war. Also, etwas salopp gesagt: querbeet allem, was nicht heteronormiert ist.
In Ausstellung, Kino, Performance (darunter auch der Schweizer Daniel Hellmann mit «Traumboy»), Musik, Postporn-Produktionen ging es immer um die Fragestellung: Wie lässt sich ein Körper definieren, eine Identität vorstellen? Oder auch: Bist du vielleicht derjenige, auf den ich mein Leben lang gewartet habe?
Die andere Welt entdecken
Keusch und züchtig ist das nicht. Aber energiegeladen, leidenschaftlich, und idealerweise etwas durchgeknallt. Wild und unersättlich.
Ein andermal gibt es poetische Schattenzirkusbilder unter dem Chapiteau, einen Clownspass für Kinder, dann wieder versponnene Soundschrauber zu entdecken. In den 20 Jahren seines Bestehens ist der Cirque Electrique auch ein bisschen erwachsener geworden. Aus drei Personen unter dem Chapiteau sind 14 Angestellte geworden und mit einer eigenen Zirkusschule denkt man sogar schon an den Nachwuchs.
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So heteroklitisch, so breit gefächert wie sein Programm ist das Publikum im Pariser Cirque Electrique. Zwischen den Zirkuszelten und dem Cabaret sitzen sie im Gartencafé. Und wenn sie alle hier eines verbinden mag, dann ist es dies: Neugierde, und das schiere Vergnügen am Entdecken der Welt, wie sie auch noch sein könnte.
Sendung: Radio SRF 2 Kultur, Kultur Kompakt, 29. Juli 2016, 17:22 Uhr.