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Halbtax, Haferflöckli, Heroin Mikrokosmos Bahnhof: Reise- und Shoppingcenter oder Gefahrenzone?

Viele Bahnhöfe in der Schweiz haben sich in den letzten Jahren zu Reise- und Einkaufscentern entwickelt. Auf kleinstem Raum bewegen sich hier viele Menschen mit sehr unterschiedlichen Bedürfnissen. Das birgt Konfliktpotential. Eine Reportage aus Aarau.

An einem Freitagnachmittag am Bahnhof von Aarau: Auf dem grossen Vorplatz, da, wo früher ein schweres Denkmal mit zwei Soldaten und ihren Gewehren stand, sitzen heute Menschen bei einem Kaffee, füllen ihren Lottoschein aus, steigen vom Zug kommend um in den Stadtbus.

Vorplatz von Bahnhof Aarau
Legende: Laut SBB-Statistik bewegen sich am Bahnhof Aarau an einem Werktag insgesamt knapp 80’000 Menschen. In manchen Momenten ist der Bahnhofsvorplatz aber auch eindrücklich leer. SRF/Michael Bolliger

Die Stimmung ist friedlich, ein leichter Wind geht. Dann taucht beim Haupteingang ein Mann mit wankendem Gang auf. Er schreit etwas Unverständliches, Menschen weichen ihm aus. «Der Bahnhof ist schon cool», sagt ein junger Passant. «Aber das lockt halt auch solche Leute an, und dann wird’s ungemütlich.»

Wenn es ums Thema Wohlfühlen am Bahnhof geht, spricht man häufig nicht über die Pendlerinnen und Urlauber – sondern über die Menschen, die nicht wegen des Zugfahrens hierherkommen: Suchtkranke oder Obdachlose beispielsweise, auch Asylsuchende. Menschen am sogenannten Rand der Gesellschaft.

Am Bahnhof Aarau halten sie sich oft gleich beim Haupteingang auf. Es ist ein wichtiger Treffpunkt. «Da geht man hin, und da ist sicher jemand, den man kennt», sagt einer. «Wir helfen einander, es ist wie eine grosse Familie», fügt ein anderer hinzu.

«Diese Leute müssen weg»

Die sogenannt Randständigen, die sich hier in Aarau am Bahnhof häufig aufhalten, wecken bei einigen Menschen Unsicherheit. «Vor allem am Abend», sagt eine junge Frau, «wenn es hier Betrunkene hat, fühle ich mich nicht mehr wohl.»

Platz mit Menschen, Rettungswagen und moderner Architektur bei bewölktem Himmel.
Legende: Wem gehört der Bahnhof? Auf dem Bahnhofplatz Aarau treffen sich Reisende, Asylbewerber, Einkaufende und Drogenhändler. Die Situation ist manchmal schwierig, die Einsätze von Polizei und Ambulanz häufen sich. SRF/Stefan Ulrich

Eine Passantin in der Unterführung meint: «Man hört so vieles vom Bahnhof. Hier gibt es offenbar auch eine Drogenszene. Ja, das macht schon Angst.» Und ein Mann, Mitte 40, der sein Velo ebenfalls durch die Unterführung schiebt, meint: «Der Bahnhof soll für alle ein sicherer Ort sein. Diese Leute am Haupteingang müssen weg, sonst geht das nicht.»

Halbtax, Haferflocken, Heroin

Unter den Bahnhöfen in kleineren Schweizer Städten (mit rund 20’000 Einwohnerinnen und Einwohnern) gehört der Bahnhof Aarau zu den grösseren. Die Zahlen sind eindrücklich: Gemäss SBB-Statistik bewegen sich hier knapp 80’000 Menschen an einem Werktag.

Shoppingbereich im Bahnhof Aarau
Legende: Jeden Tag kommen ungefähr 30'000 Menschen an den Bahnhof Aarau, die den Ort nicht zum Reisen nutzen. Sie gehen zum Beispiel zum Einkaufen dorthin. SRF/Michael Bolliger

Etwas mehr als die Hälfte davon werden in der Statistik als sogenannt Ein- und Aussteigende erfasst, also Menschen, die am Bahnhof sind, weil sie einen Zug benutzen. Das bedeutet umgekehrt: Knapp 30'000 kommen aus anderen Gründen an den Bahnhof. Um jemanden abzuholen, die Haare zu schneiden, einen Kaffee zu trinken – und in vielen Fällen auch, um einzukaufen. Das ist die eine Seite eines modernen Bahnhofs in der Schweiz.

Ein solcher Ort bietet aber auch Schutz vor Wetter, Gleichgesinnte, gratis WLAN, billiges Bier oder Drogen. Darum kommen auch Menschen an den Bahnhof, für die solche Angebote wichtig sind.

Anders gesagt: An einem Bahnhof kann man reisen, logisch, aber auch ein Halbtax kaufen, Haferflocken oder Heroin. Auf engstem Raum. Diese grosse Vielfalt an Bedürfnissen geht fast nicht ohne Konflikte.

«Ich bin das Bahnhofsmami»

Eine Konfliktlinie zeigt sich eben zwischen Reisenden und den sogenannt Randständigen. Die seien gefährlich, heisst es oft und: Sie müssten weg vom Bahnhof.

«Für suchtkranke Menschen ist der Bahnhof als Treffpunkt ein wichtiger Ort», sagt Sandra Peter, 53. Peter ist seit 13 Jahren als ehrenamtliche Gassenarbeiterin am Bahnhof in Aarau aktiv. «Hier bin ich das Bahnhofsmami», sagt Sandra Peter.

Frau im schwarzen T-Shirt sitzt vor einem Fenster.
Legende: Eine gute Seele: Als Gassenarbeiterin ist Sandra Peter wichtige Bezugsperson für Bedürftige am Bahnhof Aarau. SRF/Michael Bolliger

Die zweifache Mutter erzählt ohne Zögern von ihrer eigenen Drogensucht. Seit 34 Jahren ist sie clean. Ihre Geschichte sei für ihre Arbeit hier und den Kontakt zu den Leuten wichtig.

Dreimal pro Woche holt sie bei einer Bäckerei am Bahnhof überzählige Lebensmittel, gratis. Viele der Bedürftigen hier sind froh darüber. Aber den meisten fehlt es nicht nur an Geld, erzählt Sandra Peter, es fehle auch an sozialen Kontakten.

Ich habe noch nie erlebt, dass Suchtkranke Passanten angegriffen hätten.
Autor: Sandra Peter Gassenarbeiterin am Bahnhof in Aarau

Darum sei der Bahnhof eben ein wichtiger Ort für die meisten. Und die Gewalt? Es gebe gelegentlich Streit zwischen den Suchtkranken, häufig, weil einer dem anderen «Bschiss» vorwirft beim Drogenhandel.

«Aber in den 13 Jahren, in denen ich hier bin, habe ich noch nie erlebt, dass jemand der Suchtkranken einen gewöhnlichen Passanten angegriffen hätte.» Der Vorwurf, sie seien gefährlich, ist aus Sandra Peters Sicht nicht angebracht.

Ein angenehmer Ort

Im aktuellen Geschäftsbericht der SBB sind die Zahlen eindeutig. 80 Prozent der Befragten sind zufrieden mit den Bahnhöfen, sie fühlen sich sicher. Mit zu den bewerteten Punkten gehören Punkte wie die Umsteigesituation oder die Wegweisung, aber auch die persönliche Sicherheit wird grundsätzlich positiv bewertet.

Innenbereich eines Bahnhofs mit Sitzgelegenheiten und Uhr.
Legende: Die SBB hat grosse Flächen im Bahnhof Aarau neu eingerichtet. Mit hochwertigen Möbeln will die Bahn die Aufenthaltsqualität im Bahnhof verbessern. SRF/Karin Zimmermann

Gleichzeitig investieren die Bahn und die Städte einiges, um Bahnhöfe heller, freundlicher zu gestalten. «Ein Bahnhof soll für alle ein angenehmer Ort sein», sagt Mara Zenhäusern, Pressesprecherin der SBB.

Nimmt man Polizeimeldungen, Leserbriefe oder auch politische Vorstösse, entsteht zu vielen Bahnhöfen in der Schweiz ein anderes Bild. Ebenso bei der kleinen Umfrage von SRF bei Passantinnen und Passanten an diesem heissen Sommertag am Bahnhof Aarau.

Man hört und liest eben soviel.
Autor: Passantin am Bahnhof Aarau

Je später der Tag, desto mehr macht sich bei vielen ein ungutes Gefühl breit. Auch bei jenen Befragten, die direkt noch keine gefährliche Situation am Bahnhof erlebt haben. «Man hört und liest eben soviel», sagt eine Passantin.

Warum ein Ort als gefährlich gilt

Das passt zu den Aussagen einer Studie der Hochschule Luzern aus dem Jahr 2023. Kernaussage dort: Das individuelle Sicherheitsempfinden ist immer auch geprägt von der persönlichen Risikobewertung. Aus der Forschung weiss man, dass zum Beispiel Orte, an denen Menschen gelegentlich laut sind oder betrunken, als Risikoorte – oder sogar als sogenannte Angstorte – bewertet werden.

Unterführung mit Wanduhr und Person im Bahnhof.
Legende: Bahnhofsunterführungen um Mitternacht, wie hier in Aarau: ein Beispiel für Orte, die Menschen Angst bereiten können. SRF/Michael Bolliger

Auch Orte, an denen sich Gruppen mit einem schlechten Image, zu Recht oder zu Unrecht, bewegen, werden allgemein als latent gefährlicher eingeschätzt. Und nicht zuletzt ist Sauberkeit ein wichtiger Faktor dafür, ob ein Ort eher als freundlich oder gefährlich taxiert wird. An einem Bahnhof können mehre dieser Faktoren zusammenkommen.

Ein blaues T-Shirt kann helfen

Eine Massnahme gibt es, bei der sich die Gemüter in der Regel rasch beruhigen: Einsatz von Sicherheitsdiensten. Stadt, Kanton und SBB arbeiten in diesem Bereich koordiniert an einem Bahnhof.

Es geht darum, dass wir Präsenz markieren.
Autor: Peter Ritter Leiter im Sicherheitsdienst

Zwar übersteigen die Forderungen nach mehr Polizeipräsenz die Ressourcen der örtlichen Korps – auch hier in Aarau. Dafür wird hier ab dem nächsten Jahr ein Sicherheitsdienst dauerhaft eingerichtet, der bisher als Pilotprojekt lief: Die SIP – Sicherheit, Intervention, Prävention.

Ein Mann mit blauen T-Shirt steht vor einer Glasfassade.
Legende: «Gewährleistung der objektiven und subjektiven Sicherheit am Bahnhof»: Um das Ziel zu erreichen, hat die Stadt Aargau das Projekt SIP gestartet. Peter Ritter ist der Leiter. SRF/Michael Bolliger

Dieser Dienst ist jeweils in Zweier-Patrouille und in blauen T-Shirt von Donnerstag bis Samstag jeweils abends und nachts unterwegs. Die Teams sind nicht mit Waffen und Handschellen ausgerüstet, dafür mit Abfallsäcken. «Das ist Teil unserer Aufgabe», sagt SIP-Leiter während dem Rundgang an diesem Freitagabend.

«Es geht darum, dass wir Präsenz markieren und zum Beispiel die Leute auffordern, ihren Aufenthaltsort sauber zu hinterlassen.» Das passt zur erwähnten Erkenntnis, dass ein sauberer Ort von Passantinnen und Passanten generell als sicherer eingestuft wird, als einer, an dem Abfall herumliegt.

Präsenz ist auch wichtig, wenn – nicht selten an einer Freitag- oder Samstagnacht – grössere Gruppen von Partygängern auftauchen. Wenn dort die Partyeuphorie unter Alkoholeinfluss in Aggression oder Gewalt kippe, dann sei auch eine unbewaffnete Präsenz wichtig, sagt Peter Ritter. Und sein blaues T-Shirt kann dann den Passantinnen und Passanten hier ein Sicherheitsgefühl geben.

Radio SRF 3, Input, 17.08.2025, 20 Uhr

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