Der Mensch klagt gefühlt zu jeder und über jede Jahreszeit. Zumindest in unserer Komfortzone Schweiz.
Der Frühling: zwar Favorit für viele, weil so erquickend, aber leider doch noch etwas frisch. Der Sommer: lang ersehnt und nach einem Tag schon zu heiss. Der Herbst: farblich wunderbar (diese Blätter!), aber zu regnerisch. Und der Winter: Brrrr! Zeit für viele Menschen, sich in die vier Wände zurückzuziehen.
Natürlich kann der Winter auch wunderschön sein. Im meterhohen Schnee einen Engel machen? Nicht nur für Kleine ein Riesenspass. Auf dem Schlitten den Hang runtersausen? Ein waghalsiger Moment des Glücks.
Aber im urbanen Milieu, wo wirklich weisse Winter nur eine vage Erinnerung sind, hat es der Winter schwer. Hier ärgert sich der gemeine Mensch über vereiste Strassen oder über die Zwiebel, als die er monatelang durch die Welt wandelt.
Von New Jersey nach Tromsø
Auch für die Psychologin und Autorin Kari Leibowitz war der Winter immer eine Qual. Von klein auf konnte sie, in der Nähe von New York in Jersey aufgewachsen, den Winter nicht ausstehen. Im Winter ins ungeheizte Auto einsteigen? Undenkbar.
Als ausgewachsene Psychologin zieht sie 2014 für ein Jahr in die norwegische Stadt Tromsø. Dort, wo der Winter lang und dunkel ist, will sie erfahren, wie Menschen mit der kalten Jahreszeit klarkommen.
Je nördlicher, desto deprimierter?
Diese Forschungsreise ist der Ausgangspunkt des Buches «Wintern – Wie wir mit der richtigen Einstellung durch die dunklen Jahreszeiten kommen».
Zu Beginn geht Leibowitz von der Breitengradhypothese aus. Die besagt grob: Mit zunehmendem Breitengrad und Rückgang des Tageslichtes müsste die Rate der Menschen mit Winterdepressionen steigen. Schnell wird sie vor Ort eines Besseren belehrt.
Natürlich gab es Menschen, die ob der Dunkelheit und der Kälte deprimiert waren – aber nicht so viele, wie sie erwartet hatte: «Die Menschen in Tromsø schienen viel eher eine andere Sicht auf die Jahreszeit zu haben: Dass der Winter etwas ist, woran man sich erfreuen kann», schreibt Kari Leibowitz.
Viele Menschen, die sich nicht trotz, sondern wegen des Winters freuten – das erstaunte sie. Auffallend im Umgang der Menschen mit dem Winter war die positive Einstellung zur kalten Jahreszeit. Das Mindset, wie Leibowitz es nennt.
Statt den Winter zu überstehen, nähmen sich viele ihm an, so Leibowitz. Sie unternehmen Aktivitäten draussen, suchen Wärme in der Gesellschaft. Leibowitz' grosses Take-away von ihrem Aufenthalt: Der Winter muss kein Feind sein. Man kann sich mit ihm anfreunden.
Zwischen den Polen
Auch Kultur- und Literaturwissenschaftlerin Eva Horn war schon in Norwegen. Ihre Erfahrung: «Viele Norweger haben mir erzählt, dass sie im Winter sehr viel schlafen. Sie werden zu Murmeltieren.» Das beschreibt auch Leibowitz in ihrem Buch: Selbst in einem Kontext gross geworden, in dem Schlafen als unproduktiv gilt, gönnt sie sich, seit sie in Norwegen war, mehr Ruhe.
Eva Horn, auch klar der Sommertyp, wie sie im Gespräch erzählt, hat sich in ihrem Buch «Klima. Eine Wahrnehmungsgeschichte» auch mit den Jahreszeiten beschäftigt.
Auf die Frage, ob der Winter denn grundsätzlich eher des Menschen Feind sei, sagt sie: «Die Wahrnehmung des Winters ist eine Frage des kulturellen Kontextes.» Anders gesagt: Jede Kultur erlebt den Winter anders.
Der Winter, so Horn, werde in der Geschichte unterschiedlich gedeutet und gesehen. Natürlich zeige sich das auch in Kunst und Kultur: «Die kulturelle Redeweise entspannt sich zwischen zwei Polen: dem traurigen Winter, einem Symbol des Alters und Todes, und dem fröhlichen Winter, Zeit des Feierns und Zusammenseins.» Selbst in Zeiten, in denen der Winter besonders rau war, wurde er nicht nur negativ gezeichnet.
Horn spielt auf die Kleine Eiszeit an: die klimatische Periode, die Ende des 13. Jahrhunderts begann, bis ins späte 19. Jahrhundert dauerte und im 17. Jahrhundert ihren Höhepunkt hatte. Ein bezeichnendes Beispiel: das Gemälde «Jäger im Schnee» von Pieter Bruegel dem Älteren von 1565.
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Bild 1 von 4. «Jäger im Schnee» von Pieter Bruegel dem Älteren (1565). Entbehrung versus Freude: Jäger, die eine spärliche Ausbeute machen, stehen Menschen gegenüber, die Schlittschuhlaufen. Bildquelle: Wikimedia Commons.
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Bild 2 von 4. «Winterlandschaft» von Caspar David Friedrich (1811). Hier steht der Winter für Kargheit, für den Tod. Bildquelle: Wikimedia Commons.
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Bild 3 von 4. «Schnee in Argenteuil» von Claude Monet (1875). Hier kommt der Winter etwas wärmer, wohliger daher. Bildquelle: Wikimedia Commons.
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Bild 4 von 4. «Winter» von Edvard Munch (1899). Als melancholisch, als Spiegel der Seele, die düster ist: So werden Munchs Wintergemälde gemeinhin gesehen. Bildquelle: Wikimedia Commons.
Im Vordergrund: die erschöpften Jäger, die kaum Beute heimbringen. Im Hintergrund: Menschen beim Spielen und Schlittschuhlaufen. Der Winter als existenzielle Bedrohung steht hier, im 16. Jahrhundert, dem Winter als Zeit der Freude und des Feierns gegenüber.
Ein Hintergrundphänomen
Und heute? Ist das Wetter – zumindest in Europa – zum Hintergrundphänomen geworden, erklärt Horn. «Wir haben die Tendenz, uns von den Witterungen abzuschneiden und nehmen das Klima darum kaum mehr wahr.» Praktisch heisst das: «Wir tragen Mikrofaser und Funktionskleidung.»
Damals trugen die Menschen Pelze, Wolle, Leinen. Materialien, die schlecht trockneten. Heute sitzen die meisten von uns in gut isolierten und geheizten Räumen. Deshalb, so Horn, ist der Winter für uns körperlich weniger spürbar. Aber das heisst auch, dass er uns weniger berührt.
Eva Horn plädiert fürs Rausgehen: «Man kann einfach mal kurz in Hose und Pullover vor die Tür treten, sich den Temperaturen aussetzen, die Luft riechen, das feuchte Laub, das trübe Licht sehen. Dann spürt man den Winter. Man kann sich ja auch eingestehen, dass die Kälte, die Dunkelheit, die tote Natur einen traurig macht.»
Aus der Komfortzone treten also – sie selbst versuche das. Ab und zu. Um den Winter zu fühlen.
Ungefiltert den Winter wahrnehmen
Winter als Komfortzone – das sieht man auch in der Werbung. Wunschdestination: Winterwunderland. Oder in zum Trend gewordenen Hygge, wo stylische Muggeligkeit zum Überlebens-Muss für die kalte Jahreszeit wird.
Horn sieht das Phänomen nüchtern: «Hygge ist das, was man sich kauft, um die Wohnung gemütlich zu machen. Hier geht es nicht um echte Gemütlichkeit, sondern um Kommerz.»
Heute, so Eva Horn, nehmen wir Jahreszeiten eben meist nur in ihrer kommerziellen Form wahr. Winter heisse für viele, dass bald Weihnachten ist. Zeit, einen Kranz zu kaufen und Geschenke zu bestellen.
Winterkurs gefällig?
Psychologin Kari Leibowitz bietet «Wintertime Mindset Workshops» an. Kurse, in denen konkrete Strategien gelehrt werden, um die Einstellung zum Winter zu verändern.
Leibowitz verkauft dabei nicht nur Rüstzeug für den Winter. Sie verspricht mehr: «Die Art und Weise, wie wir mit dem Winter umgehen, ist eine ziemlich gute Bewährungsprobe dafür, wie wir andere, dunkle, schwierige Lebensabschnitte bewerkstelligen.»
Selbstwirksam nicht nur durch den Schnee stapfen, sondern auch fürs Leben lernen, das von Stolpersteinen gepflastert ist? Klingt doch etwas anstrengend amerikanisch. Aber wer mag: Auf in neue Abenteuer!
«Winter is coming» heisst es übrigens in der Erfolg-Serie «Game of Thrones», wenn düstere, schwere Zeiten anbrechen. Jon Snow, meist nur mit Fellumhang bekleidet, hat – Stand heute – überlebt. Und Kari Leibowitz? Sie ist von der Winterhasserin zum Winterfan geworden.