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Ideenklau vs. Inspiration «Rechtlich kann man nur Objekte schützen – keine Symbole»

Der Streit um kulturelle Aneignung erhitzt die Gemüter. Wo hört die Inspiration auf, wo fängt der Ideenklau an? Rechtsprofessor Florent Thouvenin erklärt, was juristisch zulässig ist.

Florent Thouvenin

Jurist

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Florent Thouvenin ist Professor für Informations- und Kommunikationsrecht an der Universität Zürich. Zu seinen Spezialgebieten gehört das Immaterialgüterrecht, zu dem auch das Urheber- und Markenrecht gehören.

SRF: Vor Kurzem hat das Bundesgericht Lidl dazu verpflichtet, seine goldenen Schoggihasen aus dem Sortiment zu nehmen. Sie waren dem Original von Lindt & Sprüngli zu ähnlich. Ein Fall von «Ideenklau»?

Florent Thouvenin: Aus rechtlicher Sicht geht es hier nicht um «Ideenklau», sondern um Markenschutz. Als Marken können nicht nur Namen wie «Adidas» oder «Rivella» geschützt werden, sondern auch Formen und Farben von Produkten.

Lässt sich nachweisen, dass mehr als die Hälfte der Bevölkerung ein Produkt einem bestimmten Hersteller zuordnet, kann dieser seine Form als Marke schützen lassen. Das war bei den Goldhasen der Fall.

Auch in der Debatte um kulturelle Aneignung geht es um Formen, die man wiedererkennt: Reggae zum Beispiel, oder Dreadlocks.

Rechtlich schützen lassen sich nur bestimmte Objekte, nicht Stile oder Symbole. Man kann zum Beispiel das Design eines Turnschuhs als Marke schützen lassen.

Dreadlocks sind aber das Symbol einer Kultur und weisen weder auf eine bestimmte Person noch auf ein bestimmtes Unternehmen hin. Auch Urheberrechte bestehen nur an einem bestimmten Werk. Reggae ist ein Stil, kein Werk.

Ich darf also Seerosenbilder im Stil von Monet malen und verkaufen?

Ja, es sei denn, Sie kopieren ein konkretes Bild. Dann verletzen Sie möglicherweise Urheberrechte an diesem Bild. Urheberrechtlich geschützt sind aber weder der Stil der Impressionisten noch das Malen von Seerosen.

Muss der kulturelle Austausch nicht gerade frei sein, auch frei von Gegenleistungen?

Ist rechtlich gesehen auch nichts dabei, sich als Indianer zu verkleiden?

Genau. Derart abstrakte Konzepte kann niemand für sich beanspruchen. Kommt hinzu, dass es «die Indianer», wie Kinder sie nachspielen, ja gar nicht gibt.

Rein rechtlich darf ich mich also verkleiden als was immer ich will?

Grundsätzlich ja. Denkbar wäre aber, dass man mit einer Verkleidung Persönlichkeitsrechte verletzt. Das Persönlichkeitsrecht kann unter bestimmten Umständen auch auf Gemeinschaften angewendet werden.

Wem gehören die Schindelhäuser im Toggenburg, das Raclette?

Würden sich beispielsweise Kinder als Wiener Sängerknaben verkleiden und sich über diese lustig machen, indem sie absichtlich schauderhaft singen, könnten die Wiener Sängerknaben eine Persönlichkeitsverletzung geltend machen.

Würde man sich verkleiden wie orthodoxe Juden und sich in abschätziger Weise verhalten, würde in der Schweiz wohl auch die Antirassismusstrafnorm greifen.

Zurück zu Reggae, Jazz oder Blues: Es ist doch nicht in Ordnung, wenn wir uns an anderen Kulturen bedienen, ohne etwas zurückzugeben?

Gegenfrage: Kann und soll Kultur jemandem gehören? Muss der kulturelle Austausch nicht gerade frei sein, auch frei von Gegenleistungen?

Wem gehören unsere Volksmärchen, die Schindelhäuser im Toggenburg, das Raclette? Solange keine Persönlichkeitsrechte verletzt werden, ist rechtlich nichts gegen «kulturelle Aneignung» einzuwenden.

Ein Restaurant in Norwegen kann also Raclette anbieten, ohne einen Prozess zu riskieren?

Genau. Das Anbieten von geschmolzenem Käse ist ebenso frei wie die Verwendung des Begriffs Raclette. Auch wenn das Recht hier nicht eingreift, kann ich ein gewisses Unbehagen gegenüber der unreflektierten Verwendung von Symbolen fremder Kulturen nachvollziehen, besonders in einem kommerziellen Kontext.

Manchmal wirkt das auch einfach plump und anbiedernd. Es ist letztlich eine Frage des Anstands, respektvoll mit anderen Kulturen umzugehen.

Das Gespräch führte Barbara Bleisch.

SRF 1, Sternstunde Philosophie, 16.10.2022, 10:55 Uhr ; 

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