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Gesellschaft & Religion Indien: Zwischen Gandhis Genügsamkeit und der Gier nach mehr

Ist der Kolonialismus wirklich vorbei? «Nicht ganz», meint die indische Professorin Shalini Randeria, denn die neoliberale Globalisierung trägt kolonialistische Züge. Statt dem ungehemmten Konsum wäre die Rückbesinnung auf Gandhis Werte vonnöten.

Manche nicht-westliche Intellektuelle meinen, dass der Kolonialismus nicht vorbei sei. Kann man von Neo-Kolonialismus sprechen?

Zur Person

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Legende: IWM / Dejan Petrovic

Shalini Randeria ist Professorin für Ethnologie und Soziologie am «Graduate Institute of International and Development Studies» in Genf, sowie Rektorin des «Instituts für die Wissenschaften von Menschen» in Wien. Zu ihren Forschungsgebieten gehören unter anderem Globalisierung und Entwicklung.

Shalini Randeria: Die Globalisierung muss meiner Meinung nach vor dem Hintergrund der europäischen kolonialen Eroberung gesehen werden. Globalisierung unter neoliberalen Vorzeichen tendiert dazu, strukturelle Unterschiede zu verstärken und Ungleichheiten zu intensivieren, die während der Kolonialherrschaft eingeführt wurden.

Anderseits baut sie aber auch manche alten Unterschiede und Gefälle ab. Viele arme und ausgegrenzte Gruppen erfahren diese Prozesse als Rekolonialisierung ihrer Zukunft.

Wie geschieht Globalisierung am Beispiel Indien?

Die Vorschriften des IWF und der Weltbank zwangen Indien zur Übernahme einer neoliberalen Wirtschaftspolitik in den 1990er Jahren. Die indische Elite teilte diese Vision und umarmte willig das Mantra der Deregulierung und des sogenannten freien Markts. Importierte Konsumgüter wurden für die wohlhabende Mittelklasse frei zugänglich, und spornten einen ungehemmten Konsum an.

Wie sieht das konkret aus?

Mobiltelefone sind allgegenwärtig. Es gibt neue private Fernsehsender. Call Centers und IT Firmen boomen, da qualifizierte englischsprachige Arbeitskräfte für niedrige Löhne zu haben sind. Überall sind Shoppingzentren voll mit westlichen Luxusgüter entstanden; Musik- und Modeindustrie gedeihen. Die gewaltige Bollywood-Kinoindustrie hat erfolgreich den globalen Unterhaltungsmarkt betreten, indem sie Filme für ein Übersee-Publikum produziert.

Wie passt das zum Hindu-Nationalismus, der Ideologie, die von der Regierungspartei propagiert wird?

Einige Wissenschaftler interpretieren es als Ausdruck kultureller Unsicherheit der neuen städtischen Mittelklasse. Andere sehen darin eine politische Vereinnahmung der unteren Mittelklasse durch in neuen Medien versierte Hindu-Prediger und religiös-nationalistische, populistische Organisationen. Interessanterweise umwirbt Trump diesen hindu-nationalistischen Flügel der indischen Diaspora in den USA.

In der Sternstunde

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Der indische Schriftsteller Pankaj Mishra zählt zu den grossen Intellektuellen des modernen Asiens. Er ist Gast in der «Sternstunde Philosophie»: am 30. Oktober 2016, 11:00 Uhr auf SRF 1.

Der indische Schriftsteller Pankaj Mishra sorgte mit seinem Buch «Aus den Ruinen des Empires» aus dem Jahr 2012 für Aufruhr. Teilen Sie seine Kritik des Westens?

Er klagt die Arroganz des Westens und dessen Illusionen einer politischen Vormachtstellung an, sowie dessen Unfähigkeit und Unwille, die koloniale Vergangenheit aufzuarbeiten.

«Aus den Ruinen des Empires» ist ein komplexes Werk, das die Entstehung der modernen Welt für einmal aus asiatischer Perspektive erzählt. Es versucht den Gegensatz vom «Westen und dem Rest der Welt», welches die konventionelle Geschichtsschreibung prägt, zu überwinden.

Für mich ist dieses Buch «Verflechtungsgeschichte» vom Feinsten, um einen Begriff, den ich propagiere, zu verwenden.

Teilen Sie auch Pankaj Mishras Utopie vom Rückzug in die Dörfer, von Demut, Selbstbeschränkung, Mässigung, ein Leben wie Gandhi?

Diese Ideen haben eine lange Geschichte in Indien. Gandhi träumte von einem Indien mit selbstversorgenden, selbstverwalteten Dorfgemeinschaften. Nehru, der erste Premierminister Indiens, plädierte hingegen für eine moderne, urbane, industrialisierte Gesellschaft mit einem starken Nationalstaat.

Obschon ich nicht eine romantische Rückkehr zum einfachen, ursprünglichen Dorfleben für möglich oder wünschenswert halte – ich habe zu viele Jahre in indischen Dörfern gearbeitet, um eine solche nostalgische Sicht zu pflegen – teile ich Gandhis Ansicht, dass die Welt genug hat für den Bedarf aller, aber nicht genug für jedermanns Gier.

Die Selbstgenügsamkeit, weniger Konsum und mehr ökologische Sensibilität muss dringend kultiviert werden, in Indien wie in Europa.

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