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Internet-Phänomen «Lurking» Ich kam, sah – und schwieg: Warum im Netz so viele nur mitlesen

Die Mehrheit der Nutzer auf Social Media beteiligt sich nicht an Online-Debatten, sondern beschränkt sich aufs Mitlesen. Warum?

«Es schreibt ja auch nicht jeder Zeitungsleser zu jedem Artikel einen Leserbrief», sagt Thomas Friemel, Medienforscher an der Universität Zürich. Er reagiert damit auf die Debatte um das Phänomen «Lurking».

Lurking, das ist Netzjargon für passives Online- und Social Media-Verhalten, das sich aufs reine Mitlesen beschränkt.

Frau mit Kopfhörern schaut auf Handy, gestützt auf Bücherstapel.
Legende: Scrollen, schauen, scrollen, schauen: Mal ehrlich, wie oft nehmen Sie sich im Online-Alltag die Zeit, unter einem Text, Foto oder Video einen längeren Kommentar zu verfassen? Getty Images/Riska

Dass der Begriff «Lurking», auf Deutsch «Verborgen-Sein», verwendet wird, beurteilt Friemel zudem grundsätzlich als zwiespältig. Denn der Begriff sei negativ gefärbt – und es sei ja auch niemand verpflichtet, zu liken, zu posten und zu kommentieren.

Angst und Algorithmen

Auch sei der Anteil derer, die online schweigen, schwierig einzuordnen – weil die Vergleichsgrösse zu anderen Medien fehle. Wie viele Menschen melden sich auf einen Beitrag hin beim Radio? Wie viele verfassen einen Leserbrief?

Online sei das nicht anders, sagt Friemel: «Statt das Schweigen zu bemängeln, könnte man auch feststellen, dass es erstaunlich ist, wie viele Leute sich überhaupt beteiligen und äussern.»

Triftige Gründe, sich nicht zu äussern

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Was bewegt uns eigentlich, uns Online nicht aus der Beobachter-Rolle zu bewegen? Das sind die zentralen Beweggründe:

  • Zeitmangel
  • Angst vor Anfeindungen
  • Sorge vor Überwachung
  • der Wunsch, unliebsame Inhalte nicht weiterzuverbreiten

Die soziale Komponente, also die Sorge, angefeindet zu werden, habe die Forschung in der Vergangenheit stark gewichtet, sagt Thomas Friemel. Heute stünden andere Schwerpunkte im Vordergrund, etwa die Algorithmen.

Sie registrieren im Hintergrund unter anderem, auf welche Inhalte wir klicken. Mit diesen Informationen schlagen sie uns passende neue Inhalte vor. Das sei den online aktiven Menschen heute bewusster.

Studie «Lauter Hass, leiser Rückzug»

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Grafik von digitaler Belästigung und Mobbing.
Legende: Getty Images/DrAfter123

Die Angst der Userinnen und User vor Anfeindungen im Internet kommt nicht von ungefähr. Das zeigt die Studie «Lauter Hass, leiser Rückzug» des deutschen «Kompetenznetzwerks gegen Hass im Netz» von 2024.

  • Jede zweite Person gab hier an, aus Angst kaum an Online-Diskussionen mitzuwirken.
  • 49 Prozent der Befragten wurden schon online beleidigt.
  • 25 Prozent waren mit körperlicher und
  • 13 Prozent mit sexualisierter Gewalt konfrontiert.

Wegen solcher Erscheinungen halten sich 57 Prozent mit ihrer Meinung zurück. Fast ebenso viele beteiligen sich seltener an Diskussionen im Netz und formulieren Beiträge bewusst vorsichtiger.

Wenn man wisse, dass man da etwas beeinflussen könne, kommentiere oder like man vielleicht einzelne Beiträge nicht – «weil man nicht will, dass das System erkennt, was einem gefallen hat.» Manche würden so versuchen, den Algorithmus nicht mit zu vielen Informationen zu füttern.

Die Natur der Online-Debatte

Ein weiterer Grund für die Zurückhaltung der Mehrheit im digitalen Raum ist die Sorge vor zu hoher Selbstoffenbarung: Wer poste, like und kommentiere, mache sich durchschaubarer für andere Akteure.

Hass im Netz: Was tun?

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Laut Bundesamt für Statistik BFS sind 40 bis 60 Prozent der Menschen in der Schweiz von Hass im Netz betroffen, jüngere mehr wie ältere.

Fachleute empfehlen, Vorfälle direkt bei den sozialen Netzwerken zu melden. Die Erfahrung zeigt jedoch, dass es meist lange dauert, bis die (international ansässigen) Betreiber reagieren.

Doch auch die Opferhilfe oder die Pro Juventute bieten fachliche Unterstützung an.

Fachleute empfehlen zudem, ehr- oder persönlichkeitsverletzende Posts mit Screenshots zu sichern. Sie können als Beweise in einem rechtlichen Verfahren dienen.

«Denken wir an Geheimdienste oder Marketingfirmen, die versuchen, mich zu verstehen. So könnten negative Konsequenzen auf mich zukommen», sagt Friemel. Manche kommentieren auch nicht, um keine Inhalte weiterzuverbreiten, die ihnen missfallen.

Gelbes Smartphone mit schwebenden Herz-Benachrichtigungen.
Legende: Was wir liken, prägt unsere Feeds, Timelines und «For You»-Pages – und manchmal auch die der anderen. Deshalb lassen viele den Like lieber weg. Getty Images/J Studios

Der Philosoph Philipp Hübl hat 2024 in seinem Buch «Moralspektakel» festgestellt, dass Online-Diskussionen extremer und weniger sachlich werden. Und zwar, weil die Lautstarken, Plakativen moderatere Stimmen von den Plattformen vertreiben. Allerdings sei das nichts Neues, erklärt Thomas Friemel. Es liege in der Natur der öffentlichen Debatte, dass vor allem die pointierten Stimmen gehört werden.

Online schweigsam, offline redselig

«Die sozialen Medien, die Onlinemedien verstärken da insofern etwas, weil auch die Finanzierungslogiken das unterstützen.» Mit anderen Worten: Wer online viele Interaktionen tätigt, generiert mehr Werbeeinnahmen.

Der Kommunikationsexperte folgert: «Deshalb ist es wichtig, dass es Medien gibt, die anders finanziert werden und nicht so sehr dem Druck unterliegen, möglichst viel und rasch Aufmerksamkeit zu erzeugen.»

Friemel erinnert daran, dass das Meinungsspektrum in den sozialen Netzwerken keineswegs repräsentativ ist. Und er weist darauf hin, dass ja auch im analogen Raum kommuniziert wird: beim Kaffeeautomaten, am Küchentisch. Und: Im überschaubaren und persönlichen Kreis verbergen Menschen ihre Meinung offenbar weniger häufig.

Radio SRF2 Kultur, Kultur Aktualität, 11.8.2025, 17:20 Uhr

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