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Kirche und Krieg Von Friedensbewegten, die sich nicht unterkriegen lassen

Friedenstauben und Regenbogenfahnen: Die Friedensbewegung schmückt sich mit Symbolen aus der Bibel. Doch was tut die Kirche? Zwei Begegnungen – und ein Haufen Erinnerungen.

Samstag, 12 Uhr, irgendwann Anfang der 1980er-Jahre in Deutschland: Sirenenalarm. Es ist nur der übliche Probealarm, das wissen meine Mutter, die Oma und ich. Weiteressen können wir aber erstmal nicht. Als die Sirenen endlich aufhören zu heulen, atmet Oma tief durch: «Dass ihr das nie erleben müsst, Krieg!»

Meine Grossmutter, Jahrgang 1912, hat zwei Weltkriege überlebt. Sie verlor ihre beiden Brüder, ihre Heimat und 1000 Morgen Land. Sie wurde «Flüchtling» und ein «niemand». Wie gut, dass meine Oma den jetzigen Krieg in der Ukraine nicht mehr miterleben muss. 104 Jahre alt wurde sie. Der Krieg blieb bei ihr bis zuletzt präsent.

Personen verschiedener Organisationen demonstrieren in Bern gegen den Krieg in der Ukraine.
Legende: Personen verschiedener Organisationen demonstrieren in Bern gegen den Krieg in der Ukraine. KEYSTONE/Peter Schneider

Der Krieg sitzt heute wieder an unseren Mittagstisch: «Nie wieder, nie wieder Krieg», sagt meine Mutter, geboren 1939. Als «Flüchtlingskind» weiss sie, wovon sie redet. Umso mehr bedrücken uns die Bilder aus der Ukraine. Zusammen mit der Frage: «Und was machen die Kirchen?!»

Ich bin in der kirchlichen Friedensbewegung aufgewachsen. Mit unserer ökumenischen Jugendgruppe demonstrierten wir gegen Aufrüstung und gegen die «Einsegnung» von Soldaten vor dem Dom. Nie wieder dürfen Kirchen sich hergeben, Waffen zu segnen, waren wir überzeugt.

Auf einem alten Foto sitzt eine Jugendliche an einer Friedensdemo auf der Strasse, um den Hans ein lila Halstuch.
Legende: Die Autorin, 15-jährig, an einer Friedensdemo in Speyer, Rheinland-Pfalz. Um den Hals trägt sie das lila Tuch des Deutschen Evangelischen Kirchentags mit der Aufschrift «Umkehr zum Leben – Die Zeit ist da für ein Nein ohne jedes Ja zu Massenvernichtungswaffen». zvg

Und jetzt das: Der russische Patriarch rechtfertigt den Angriff auf die Ukraine als geheiligte Tat. «Krieg darf um Gottes willen nicht sein», war doch unsere christliche Parole. «Haben die Menschen denn nichts gelernt?!», schimpft Mama.

Mit dieser Frage mache ich mich auf zu zwei Friedensbewegten: Menschen, die sich nicht entmutigen lassen, den Weg der Gewaltlosigkeit zu gehen. Ich treffe die Mediatorin Lea Suter (37) aus Thun und den Friedenspionier Arne Engeli (86) in Rorschach am Bodensee.

«Frieden hat ein Kommunikationsproblem»

«Frieden ist leise. Krieg ist laut. Das macht es schwer, der Stimme des Friedens in der Öffentlichkeit Gehör zu schaffen», sagt Lea Suter. Auch darum schreibt sie ihren Friedensblog PeacePrints .

Frau mit langen Haaren vor einem See.
Legende: Will der Stimme des Friedens Gehör verschaffen: die Aktivistin Lea Suter. zvg

«Friedensreportagen» nennt sie ihren etwas anderen Reiseblog. Darin porträtiert sie Frauen und Männer, die in Kriegs- und Nachkriegsgebieten für Versöhnung arbeiten. Sie sammelte ermutigende Biografien aus Ruanda, Myanmar, dem Irak und auch dem Donbass.

«Donbass-Dialog» hiess eine Gruppe in der Ostukraine, die ins Gespräch kommen wollte und auch kam. Doch mit dem Einmarsch von Putins Truppen in der Ukraine sind alle Mitglieder dieser hoffnungsvollen Gruppe aus der Region geflohen. Lea Suter gibt zu, dass sie im Blick auf die Ukraine «kaum etwas tröstet».

Keine Alternative

Zur Friedensbewegung sieht Lea Suter trotzdem keine Alternative. Gerade die Menschen in Kriegs- und Postkonfliktgebieten machen ihr Mut. Menschen, die trotz Krieg oder Genozid ihre Menschlichkeit nicht verlieren.

Solche Begegnungen seien wie «Perlen», die sie als Schatz mit nach Hause nehme. So auch von ihrer Reise ins Grenzgebiet Armeniens und Aserbaidschans, wo Lea Suter den armenischen Friedensaktivisten Georgi Vanyan traf . Er weigere sich seit 30 Jahren standhaft, die Nachbarn in Aserbaidschan als «Feinde» zu sehen.

Mit dem Wort «Feind» fange es an: Wenn aus einem Mitmenschen plötzlich «der Feind» werde, beginne dessen Entmenschlichung. Lea Suter ermuntert, genau auf die Sprache zu achten, in der über «den Anderen» gesprochen wird.

Wenn die Kommunikation bricht

Mir kommt mein Training in gewaltfreier Kommunikation in den Sinn, das ich bei den Mennoniten auf dem Bienenberg, Baselland, bekam. Von der historischen Friedenskirche der Mennoniten oder Täufer habe ich am meisten über Frieden und gewaltlose Konflikttransformation gelernt. Die setzt bei der Sprache – beim miteinander Reden – an.

Auch in den aktuellen Wortgefechten geht es mit Schuldzuweisungen hin und her. Wie soll «der Westen» jemals wieder mit Russland auf Augenhöhe verhandeln, wenn man dessen Präsidenten zuvor mit Hitler verglich oder Antichrist schimpfte?

Auf der anderen Seite tut das der russisch-orthodoxe Patriarch Kyrill genauso mit den führenden Köpfen «des Westens». Die «Dämonisierung der Gegner» sei auch eine Form von Gewalt, so Lea Suter.

Aus der Spirale ausbrechen

Die wechselseitige Dämonisierung ist typisch für Konflikte und führt zu grösstmöglicher Entfernung. Die Entmenschlichung der anderen Seite macht es leichter, auf sie zu schiessen, sei das mit Worten oder Waffen. So funktionierte Krieg schon immer.

Es brauche dringend eine bessere Kommunikationsarbeit für Frieden, fordert Lea Suter. Frieden sei so «leise und so dezent» und könne nur im sicheren Rahmen, also erstmal unter Ausschluss der Öffentlichkeit geschmiedet werden. Das ist eine Krux für Friedens-PR.

Bodensee-Ostermarsch 2003: Politische, gewerkschaftliche und kirchliche Gruppen haben um Anti-Kriegs-Protest aufgerufen.
Legende: Bodensee-Ostermarsch 2003: Politische, gewerkschaftliche und kirchliche Gruppen haben zum Anti-Kriegs-Protest aufgerufen. KEYSTONE/Mario Gaccioli

Bewusst werde Friede eigentlich erst, wenn er nicht mehr da ist. Trotzdem will Lea Suter nicht, dass sich «die Friedensbewegung von Krieg ernährt». Friedensbewegung brauche es immer.

Genau, denke ich – und an die unzähligen Male, da das Wort «Frieden» in Kirchenliedern vorkommt. Eigentlich in fast jedem Kirchenlied.

Bomben am Bodensee

Der 86-jährige Arne Engeli hat den Krieg am Bodensee mit eigenen Kinderaugen gesehen: vom Kirchturm in der sicheren Schweiz aus sah der Bub, wie Friedrichshafen 1944 zerbombt wurde und lichterloh brannte.

Älterer Mann trägt eine Regenbogen-Fahne in der Hand im Garten seines Hauses.
Legende: Arne Engeli, das Urgestein der Schweizer Friedensbewegung, gibt die Regenbogenfahne zeitlebens nicht aus der Hand. SRF/Judith Wipfler

Bei einer Reise nach Dänemark zur Familie seiner Mutter sah der Elfjährige nach dem Krieg schliesslich, wie komplett zerstört Deutschland und seine Menschen waren. Die Bilder von zerbombten Bahnhöfen, Häuserruinen und von einbeinigen Kriegsversehrten prägten sich dem Kind so sehr ein, dass ihn das Thema Frieden nie mehr losliess.

Friedrichshafen wurde zerstört, weil es eine Waffenschmiede des Deutschen Reichs war. Ausgerechnet hier am Bodensee ging die Rüstungsproduktion wieder los – und Arne Engeli musste etwas tun. Heute weist die Bodensee-Region die grösste Dichte an Waffenproduktion in Europa auf.

Frieden schaffen ohne Waffen.
Autor: Slogan aus den hochgerüsteten 1980er-Jahren

Anfang der 1980er-Jahre drohte der Kalte Krieg heiss zu werden. Die Aufrüstung in Ost und West ängstigten auch mich als Kind. Ich las Jugendbücher vom Atomkrieg: «Die Wolke» hiess eins.

Im Fernsehen sah ich die 108 Kilometer lange Menschenkette von Stuttgart bis Neu-Ulm. Rund 400'000 Menschen demonstrierten damit gegen die Stationierung von Raketen und atomaren Marschflugkörpern.

Arne Engeli war seit 1984 beim internationalen Ostermarsch im Dreiländereck mitgestaltend dabei. Weil ihm «Marsch» zu militärisch klang, benannten sie ihn um in « Bodensee-Friedensweg ». Auf Schweizer Seite engagieren sich 40 verschiedene Organisationen dafür.

Friedenskundgebung am Ostermontag

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Der Bodensee-Friedensweg findet auch diesen Ostermontag wieder statt, das Motto lautet: «Es geht ums Ganze! – Klima – Gerechtigkeit – Frieden». Etwa 100 Organisationen aus der Schweiz, Österreich und Deutschland laden am 18. April in Bregenz zum Friedensweg ein. Auch Lea Suter wirkt mit, Arne Engeli hat sich eben aus der Organisation zurückgezogen, um Jüngeren Platz zu machen.

Arne Engeli ist heute lebendiges Geschichtsbuch der christliche Friedensbewegung. In der Leipziger Nikolaikirche erlebte er die friedliche Revolution in der DDR hautnah mit. Jahrzehntelanges Beten und gewaltfreie Demonstrationen, meint er, hätten die Diktatur schliesslich zum Implodieren gebracht.

Menschenkette auf einer Autobahn auf einer Schwarz-weiss-Aufnahme.
Legende: 108 Kilometer Protest: 1983 bildeten hunderttausende Menschen eine Menschenkette, um gegen die Stationierung von US-Raketen in Deutschland zu demonstrieren. Am Bodensee läuft auch Arne Engeli seit Anfang der 80er am internationalen Ostermarsch mit. KEYSTONE/dpa/Harry Melchert

Ich erinnere mich genau. Im Januar vor der Wende 1989 war ich noch mit unserem Pfarrer in Ostberlin. Wir trafen dort unsere Partnerkirchgemeinde, weil die ja nicht raus zu uns in den Westen durften. Wir beteten für Frieden. Ich glaubte damals nicht ans Ende der DDR.

Wer den Frieden will, muss den Frieden vorbereiten.
Autor: Arne Engeli Friedensaktivist

Auch 1989/90 brachte nicht den biblischen Frieden – auf dem Balkan ging der Krieg los. Als evangelisch-reformierter Christ leistete Arne Engeli in den 1990er-Jahren mit dem Hilfswerk HEKS Nothilfe im kriegsversehrten Ex-Jugoslawien.

Die Frauen und der Frieden

Genau wie Lea Suter waren es auch dort Menschen, vor allem Frauen, die ihn ermutigten: Versöhnung ist möglich. Engeli unterstützte darum, die feministische Friedensaktion 1000 Frauen des Balkan für den Friedensnobelpreis vorzuschlagen. Sie bekamen ihn nicht.

Als christlicher Politologe begleitete Arne Engeli auch das Friedenswirken der ökumenischen Kirchengemeinschaft eng und kritisch.

Der Ökumenische Rat der Kirchen wurde unter dem Eindruck der beiden Weltkriege gegründet, explizit, um die Völker zu versöhnen. Ein ökumenischer Grundsatz ist die Gewaltfreiheit: «Krieg darf um Gottes willen nicht sein.»

Ökumenischer Rat der Kirchen (ÖRK)

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Die ökumenische Bewegung will die verschiedenen Kirchen und christlichen Konfessionen miteinander versöhnen und einen. Gegründet wurde der ÖRK 1947 in Amsterdam. Später liess er sich auf dem «heiligen Hügel» in Genf nieder, in Fussnähe zur UNO.

Heute sind 352 Kirchen im ÖRK Mitglied – jedoch nicht die grösste christliche Kirche der Welt, die römisch-katholische Kirche. Sie ist aber seit Jahrzehnten feste Gesprächspartnerin des ÖRK und teilt auch dessen inhaltlichen Ziele: Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung.

Als NGO (Nichtregierungsorganisation) gelang es dem ökumenischen Kirchenbund in der Zeit des Kalten Krieges ebenso zu vermitteln wie in anderen Konflikten. Besonders aktiv war der ÖRK im Anti-Apartheidskampf.

Spaltende Themen sind Homosexualität und Genderfragen. Aktuelle Belastungsproben sind die Spaltung der Ostkirchen und das Verhalten des russisch-orthodoxen Patriarchen Kyrill, der Putins Angriff auf die Ukraine unterstützt.

Alle acht Jahre findet eine Vollversammlung statt, die nächste startet Ende August 2022 in Karlsruhe.

Umso bitterer ist darum, dass die Kirchendiplomatie aktuell nichts auszutragen scheint. Wenn der russisch-orthodoxe Patriarch Soldaten segnet und den Krieg rechtfertigt, dann widerspricht das dem ökumenischen Grundsatz der Gewaltlosigkeit. Das müsste der ÖRK jetzt klarer benennen.

«Friedenskirchen» machen den Unterschied

Dass der ÖRK und die grossen Kirchen den Frieden nicht für wichtig genug nehmen, kritisieren die kleinen «Friedenskirchen» schon seit Jahrzehnten. Die Mennoniten oder die noch kleinere Gruppe der Quäker sind darum so etwas wie das Salz in der Kirchensuppe.

Tröstlich ist die überwältigende Solidarität, die vielen Spenden der Kirchgemeinden oder die Aufnahme Geflüchteter durch Kirchenmenschen. «Das macht Mut», sagt Arne Engeli. Aber der Frieden sollte im Christentum präsenter sein: Frieden ist mehr als ein netter Osterspaziergang. «Friede» oder «Schalom» ist doch die zentrale Botschaft der jüdisch-christlichen Bibel.

Gott selbst hing seinen Kriegsbogen in den Himmel. Nach der Sintflut machte er den Regenbogen zum Zeichen dafür, dass er Erde und Menschen nie mehr zerstören wolle. Genesis 9,11: «Nie wieder sollen alle Wesen aus Fleisch vom Wasser der Flut ausgerottet werden; nie wieder soll eine Flut kommen und die Erde verderben.» Nie wieder.

Meditation statt Kirche

Die Mediatorin Lea Suter hat sich nie in einer Kirche beheimatet und bleibt skeptisch gegenüber institutionalisierter Religion. Sie glaubt aber an die Kraft von Meditation und Gebet. Gerade durchläuft sie eine vierjährige Ausbildung in interreligiöser Meditation, denn von jeder Religion lasse sich zu Meditation etwas lernen.

Menschen, die meditieren, sind erwiesenermassen ausgeglichener und lernen loszulassen. Regelmässiges Beten wirkt sich positiv auf Psyche und den Herzkreislauf aus. Im besten Fall geben Menschen dann keinen Stress und keine Aggressionen mehr an ihre Nächsten weiter und die Kette der Aggressionsübertragungen wird unterbrochen.

Lea Suter stellt sich eine meditierende und darum gewaltfreiere Gesellschaft vor.

Sie spricht darum auch von «Friedenskultur» und «Friedenshaltung». Sie sieht es als dauernde und gesamtgesellschaftliche Aufgabe, den Frieden in uns zu kultivieren. Vielleicht sollte Meditation Schulfach werden.

Ich gehe jetzt runter in den Keller und suche mein lila Tuch von damals. Es hat viel zu lange in irgendeinem Karton mit Jugenderinnerungen gelegen. Ich muss es glätten und zum Ostermarsch umbinden.

Radio SRF 2 Kultur, Perspektiven, 10.04.2022, 8:30 Uhr

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