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Darf ein Täter literarisch vom Übergriff erzählen?
Aus Kultur-Aktualität vom 22.08.2023. Bild: Getty Images / Carol Yepes
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Kontroverse um «Oh Boy» Buch gegen toxische Männlichkeit stolpert selbst darüber

Ein Buchprojekt sollte Männlichkeit sezieren. Nun wurde es wegen eines Übergriffs des Co-Herausgebers zurückgezogen.

Was ist passiert? Anfang Juli erscheint das Buch «Oh Boy». Der Sammelband mit 18 verschiedenen Texten bekannter Literaturschaffender wie Kim de l'Horizon, Michael Fehr oder Daniel Schreiber will sich kritisch mit dem Thema Männlichkeit auseinandersetzen. Der Band wird zuerst vor allem positiv besprochen. Doch dann meldet sich eine Betroffene in den sozialen Medien: Sie kritisiert den Text von Valentin Moritz, dem Co-Herausgeber. Dieser thematisiere einen Übergriff ihr gegenüber im Mai 2022. Moritz setzt sich in seinem Text mit der eigenen Täterschaft auseinander. Die Betroffene sagt, sie habe Moritz schon vor der Publikation gebeten, den Text nicht zu veröffentlichen und sich nicht am Buchprojekt zu beteiligen.

Wie reagierten Autor und Verlag auf die Kritik? Nachdem die Initiative »Keine Show für Täter« nachgehakt hatte und sich andere Autorenpersonen des Sammelbands vom Projekt distanziert hatten, reagierte der Verlag zuerst mit einer Stellungnahme. Man nehme die Kritik ernst, es handle sich aber um einen literarischen Text. Valentin Moritz habe in seinem Text einen Weg gewählt, eine Täterschaft zu thematisieren, ohne mögliche reale Personen erkennbar zu machen.

Kurz darauf ruderte der Verlag jedoch zurück: Man sei zur Erkenntnis gelangt, das Buch sei in dieser Form ein Fehler gewesen. Die Auslieferung wurde gestoppt. Alle digitalen Formate und eventuelle Nachauflagen von «Oh Boy» würden ohne den Text von Valentin Moritz veröffentlicht.

Wusste der Verlag zuvor vom Übergriff? Valentin Moritz hatte seinen Verlag 2022 kurz nach der Tat über diese informiert und angeboten, sich vom Projekt zurückzuziehen. Der Verlag und die beiden Herausgebenden hatten nach eigener Angabe dann entschieden, dass man das Nein der Betroffenen berücksichtigen, aber das Tabuthema dennoch in einem literarischen Text verarbeiten könne.

Braucht es literarische Täterreflexionen? «Täterstimmen sind enorm wichtig», sagt Markus Theunert, Fachmann für Männer- und Geschlechterfragen in Zürich. Doch den Widerstand, das Nein des Opfers zum Text als Nein anzuerkennen, finde er irritierend. «Das widerspiegelt auch tatsächlich patriarchale Machtverhältnisse und eine männliche Tendenz, sich einfach über Frauen hinwegzusetzen.»

Mann mit Schnurrbart und kurzen dunklen Haaren
Legende: Experte für eine kritische Auseinandersetzung mit Männlichkeit: Markus Theunert ist ein Vertreter der politischen Männerbewegung. Er ist Gründer und Gesamtleiter von männer.ch. Annick Ramp/Wikimedia Commons

In welcher Form wäre eine literarische Auseinandersetzung möglich? Wie Valentin Moritz auch selbst schreibt, bleibe bei einer öffentlichen Auseinandersetzung die Unsicherheit, ob man damit nicht wieder blinde Flecken patriarchaler Einstellungen reproduziere, so Theunert. «Es braucht andere, neue Formen der Reflexion. Die konkrete «Anekdote» braucht es hier nicht. Der Text könnte auch funktionieren, wenn der Autor sich mit seiner Bereitschaft zur Täterschaft auseinandersetzt.» Es sei denn auch nicht das Ziel, dass sich Männer nicht mehr mit ihrer Täterschaft öffentlich auseinandersetzen. «Sondern, dass sie genau hinschauen und fragen: ‹Wie kann das gehen, ohne dabei wieder Schaden anzurichten?›.»

Radio SRF 2 Kultur, Kultur-Aktualität, 22.08.2023, 08:15 Uhr;

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