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Krieg und Moral «Wir haben uns über die menschliche Gewalttätigkeit getäuscht»

Politik lasse sich stark von Moralisierungen leiten, kritisiert der Ethiker Frank Matthwig. Wieso das gefährlich ist.

Kirche und Religion verlieren im Westen an Einfluss und werden – gerade in Kriegszeiten – als Moralanstalt nicht mehr gehört. Der Berner Ethiker Frank Mathwig kritisiert, dass auf der anderen Seite die Politik ihre Entscheide stärker moralisch und nicht mehr rational begründe.

Ein Gespräch über die Rolle der Kirche und Ethik in Zeiten von Aufrüstung und Waffenlieferungen.

Frank Mathwig

Theologe und Ethiker

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Frank Mathwig ist Titularprofessor für Ethik am Institut für Systematische Theologie der Universität Bern, Mitglied der Nationalen Ethikkommission im Bereich Humanmedizin (NEK) und Beauftragter für Theologie und Ethik der Evangelisch-reformierten Kirche Schweiz (SEK) in Bern. Im Theologischen Verlag Zürich TVZ verantwortet er Schriften zu reformierter Ethik und Kirche.

SRF: Wir seien «friedensverwöhnt», hat jemand mal gesagt. Die meisten von uns sind im Frieden aufgewachsen und kannten nichts anderes. Haben wir uns getäuscht?

Frank Mathwig: Ich glaube eher, wir haben uns über die menschliche Gewalttätigkeit arg getäuscht. Wir haben in Westeuropa unter einer Käseglocke des Friedens gelebt. Wir waren hier wie in einer Pufferzone und darum auch ein Stück weit der Verantwortung für Krieg und Frieden entzogen.

Die Verantwortung wird aktuell viel beschworen: «Wir» – der Westen, die europäischen Staaten – hätten «Verantwortung». Was klingt da bei Ihnen als Ethiker und Theologen an?

Wir erleben derzeit, dass «die Gesinnung» in die Politik zurückgekehrt ist. Ich sage mal zugespitzt: Da die Gesinnungsagentur Kirche an Bedeutung verliert, ist die Moral in die Politik abgewandert. Politik moralisiert und macht sich so unhinterfragbar. Das heisst auch: Die Politik übernimmt selbst die moralische Rolle zur Legitimation ihrer Verantwortung. Das ist eine, finde ich, problematische Entwicklung.

Was ist denn problematisch an der moralisierenden Argumentationsweise?

Da ist auf der einen Seite Putin, der nach dem Untergang der Sowjetunion und der kommunistischen Ideologie schnell gemerkt hat: Um eine Politik betreiben zu können, brauche ich so etwas wie eine Ideologie, die dem Volk verständlich macht, warum die Politik so handelt, wie sie handelt.

Bekenntnisse gehören nun wirklich in die Religion, in die Kirchen, aber nicht in die Politik.
Autor:

Da hat er die russisch-orthodoxe Kirche als Legitimationsinstanz seiner Politik rehabilitiert. Die westeuropäischen Staaten konnten nicht in der gleichen Weise auf die Kirchen zurückgreifen.

Weil die Kirchen und Religionen im Westen als «Moralanstalt» nicht mehr gehört werden?

Genau. Und jetzt stellt sich die Frage: Woher nimmt die westliche Politik ihre Legitimationsressourcen? Hier kommt es zu einer starken Moralisierung der Politik. Das haben wir schon bei Corona erlebt.

Der Unterschied, ob die Kirche oder der Staat moralisiert: Die Kirchen führen eine Wertediskussion neben dem Staat, abgesetzt von ihm und als kritisches Regulativ. Die Kirchen müssen und dürfen Politik gar nicht verantworten! Sie sind wie der Stachel im Fleisch der Politik.

Wenn hingegen die Politik moralisiert und diese Rolle übernimmt, dann fällt das kritische Korrektiv von Moral weg und hat nur noch eine affirmative Funktion. Es dient nur noch dazu, politisches Handeln zu legitimieren.

Zu dieser Moralisierung passt auch die Sprache: Wenn von «Zeitenwende» die Rede ist oder der Einteilungen in «Gut und Böse».

Es herrscht ein Zwang, sich zuerst bekenntnishaft positionieren zu müssen, um diskursfähig zu werden. Das ist etwas völlig Undemokratisches. Ausserdem gehören Bekenntnisse meines Erachtens nun wirklich in die Religion, in die Kirchen, aber nicht in die Politik.

Die Politik sollte rational entscheiden. Und rational heisst: aus guten Gründen und nicht, weil es ein vorgeschaltetes Dogma gibt. Das verunmöglicht eine wirklich offene Debatte.

Den Bekenntniszwang in der öffentlichen Debatte um den Krieg beklagt auch Altbischöfin Margot Kässmann. Sie äusserte sich gegen Waffenlieferungen in die Ukraine und da sei Ihr «übers Maul gefahren worden». Auch die unlängst verstorbene Antje Vollmer, eine promovierte evangelische Theologin und Grünenpolitikerin der ersten Stunde, kritisierte in ihrem letzten Essay den Bekenntniszwang. Woher kommt der?

Bekenntnisse sind immer dort gefragt, wo Menschen nicht genau wissen, wie der Hase läuft. Sie ersetzen ein Wissen in Situationen, in denen gehandelt werden muss, aber eigentlich niemand weiss, was die richtige Handlung wäre. Insofern muss man sich quasi selbst Mut machen.

Wenn ich schon nicht gute Gründe und rationale Argumente für ein Handeln habe, dann sollte doch zumindest die Überzeugung entsprechend stark sein, um dann so zu handeln, wie ich entschieden habe.

Der Punkt ist: Bekenntnisse haben etwas sehr Dogmatisches. Wir fragen uns gar nicht mehr, um welches Problem es eigentlich geht. Warum fühlen wir uns genötigt, so bekenntnishaft zu sprechen? Da wird ein Diskurs abgewürgt!

Nun auch an Sie die Gretchenfrage: Muss man der Ukraine Waffen liefern oder nicht?

Wir befinden uns in einem tragischen Konflikt. Eine Situation der antiken Tragödie, bei der wir genau wissen, dass die Alternativen, die uns zur Verfügung stehen, alle falsch sind. Es gibt ein Recht auf Selbstverteidigung. Kein Land der Welt kann die Ukrainer gegen die russische Übermacht zum Martyrium verpflichten.

Wir haben zu wenig im Hinterkopf gehabt, dass der Normalfall die Gewalt ist.
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Das Martyrium war eine religiöse Haltung und zu allen Zeiten keine staatliche Option. Wenn Menschen diese nun politisch adaptieren und auf Widerstand verzichten, dann ist das eine Entscheidung, die zu respektieren ist. Aber sie darf von keiner Person erwartet werden, das scheint mir sehr wichtig.

Ich selbst habe immer eine skeptische Haltung gegenüber Waffenlieferungen gehabt, weil Waffen in einer Kriegssituation nicht zur Abschreckung dienen, sondern nur dazu da sind, Menschen zu töten.

Ein Grundsatz der Friedensbewegung heisst: «Wer Frieden will, muss Frieden vorbereiten.» Das kehrt die antike römische Imperiumslogik um, die da hiess: «Wer Frieden will, muss Krieg vorbereiten». Wie sehen Sie das als evangelischer Ethiker?

Die protestantische Friedensethik lebt sehr stark von den Impulsen Karl Barths. Von ihm stammt die berühmte Formel: «Der Frieden ist der Ernstfall.» Ich glaube, wir sind aufgrund unserer geschützten Situation und der friedlichen Jahrzehnte zumindest in unseren Regionen dazu übergegangen, diesen Ernstfall zum Normalfall zu erklären.

Wir haben zu wenig im Hinterkopf gehabt, dass der Normalfall die Gewalt ist. Aber nicht im Sinne einer moralischen Legitimation, also nach dem Motto: «Wir sind eben gewalttätig, da können wir nichts dran ändern, das ist unsere Natur», sondern genau umgekehrt!

Die Einhegung von Gewalt ist die ständige Herausforderung – nicht nur im Alltag, sondern auch in der Politik. Wir haben das Friedensthema schlichtweg nicht ernst genug genommen. Und zwar wir alle. Und jetzt sind wir mit den Folgen konfrontiert.

Das Gespräch führte Judith Wipfler.

Radio SRF 2 Kultur, Perspektiven, 02.04.2023, 08:30 Uhr ; 

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