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Geschichte eines Begriffs Pazifismus – mehr als moralisches Heldentum?

Lässt sich der Pazifismus angesichts des brutalen Angriffskriegs auf die Ukraine noch verteidigen? Kommt darauf an, wie man ihn versteht. Eine philosophische Einordnung.

Als Sahra Wagenknecht und Alice Schwarzer im vergangenen Februar zur Friedensdemonstration in Berlin aufriefen, stiess ihre Veranstaltung auf wenig Gegenliebe. «Putinversteher!», schimpften die einen, «Lumpenpazifismus» und «Friedensschwurbler» andere.

Verhandlungen mit Russland zu fordern, ist derzeit sicher nicht erfolgversprechend. Darin sind sich Expertinnen und Experten einig. Bleibt also nur die Lieferung von immer schwereren Waffen, will man die Ukraine nicht ihrem Schicksal überlassen?

Ist der Pazifismus in dieser Lage tatsächlich nur mehr naives Geschwätz?

Zwei Frauen auf einer Demo werden von einem Reporter interviewt.
Legende: Mehr als naives Geschwätz? Sahra Wagenknecht (links) und Alice Schwarzer an der Friedensdemo in Berlin. IMAGO / Stefan Trappe

Das Gewissen bleibt rein

Wollen wir die Frage beantworten, gilt es als Erstes festzuhalten: Den einen Pazifismus gibt es nicht.

Zwar denken viele bei Pazifismus ausschliesslich an Mahatma Gandhi (wobei der indische Freiheitskämpfer in vielerlei Hinsicht alles andere als gewaltlos war). Oder sie verweisen auf Jesus, der im Matthäusevangelium dazu aufruft, die andere Wange hinzuhalten, wenn man geschlagen wird.

Der Kern dieses radikalen Pazifismus ist der bedingungslose Gewaltverzicht: Man verweigert sich dem Gedanken der Vergeltung und weist den Gebrauch jedweder Waffe kategorisch zurück. Das Motiv ist dabei religiöser oder moralischer Natur, weshalb auch von «Gesinnungspazifismus» die Rede ist: «Komme, was wolle, mein Gewissen bleibt rein!»

Kriegsdienstverweigerer oder Wehrpflichtige, die sich für einen waffenlosen Dienst entscheiden, wird im Sinne der Gewissensfreiheit eine solche Haltung zugebilligt. Mehr als das: Viele beeindruckt ihre Weigerung, Teil eines barbarischen Geschehens zu werden. Stattdessen halten sie am Gewaltverbot selbst dann noch fest, wenn sie für ihre Haltung ihr Leben lassen müssten.

Der Preis für die weisse Weste

In einem Krieg stehen sich aber nicht zwei Menschen gegenüber, sondern mehrere Parteien: (Teil-)Staaten, die entscheiden müssen, wie sie ihre Bevölkerung schützen und ihre Souveränität verteidigen können. Ebenso wie Drittparteien, die den Angegriffenen entweder militärisch zu Hilfe eilen oder sie im Stich lassen können.

Die eigene moralische Integrität über alles zu stellen, selbst wenn man an Leib und Leben bedroht ist, ist das eine. Eine andere Sache ist es jedoch, den Tod unschuldiger Dritter in Kauf zu nehmen, weil man selbst nicht bereit ist, einen unrechten Angriff abzuwenden. Den Preis für die eigene weisse Weste zahlen dann andere.

Wissenschaft gegen «Pazifisterei»

Der Vorwurf, der Pazifismus zelebriere moralisches Heldentum auf Kosten anderer, ist alt. Alfred Hermann Fried, Friedensnobelpreisträger und Mitbegründer der Deutschen Friedensgesellschaft, warnte schon Ende des 19. Jahrhunderts vor einer sentimentalen «Pazifisterei», die nicht mehr zu bieten habe als den Slogan «Waffen nieder!».

Mann auf einem alten Foto mit Schnauz und Bart.
Legende: Der Friedensnobelpreisträger Alfred Hermann Fried forderte einen wissenschaftlichen Pazifismus. Wikimedia/Nobel Prize

Fried verlangte demgegenüber einen «wissenschaftlichen Pazifismus», der die Ursachen von Gewalt und Krieg erforschen und langfristige Strategien zur Friedenssicherung entwickeln sollte.

Von den Folgen her denken

Der Gesinnungspazifismus, der auch ein Verbot der Waffenproduktion fordert, wird in politischen Kreisen heute kaum mehr diskutiert. Im Vordergrund stehen meist Spielarten des sogenannten «Verantwortungspazifismus», der das Tötungsverbot nicht absolut setzt.

Vielmehr macht er die Bewertung eines möglichen Krieges von seinen Folgen abhängig. In den Krieg zu ziehen ist demnach dann zulässig, wenn die Folgen des Krieges moralisch besser ausfallen dürften, als ihn nicht zu führen. Diese Position setzt freilich eine genaue Analyse der Fakten voraus – und verliert sich damit schnell in spekulativen Risikoabwägungen.

Keine Aussicht auf Kriegsende

Nehmen wir den Konflikt in der Ukraine: Niemand wagt derzeit eine Prognose darüber, wie dieser Krieg enden könnte. Keine der beiden Parteien scheint Aussicht auf einen baldigen Sieg zu haben.

Zu erwarten ist vielmehr ein nicht enden wollender Abnützungskrieg, in dem die ukrainische Infrastruktur, Wirtschaft und Natur in gigantischem Ausmass zerstört werden – ganz zu schweigen von den massenhaften Menschenopfern, Zivile wie Soldaten, Kinder, unbescholtene Bürgerinnen und Bürger.

Angst vor der nuklearen Katastrophe

Der Forderung nach immer schwereren Waffen hält deshalb nicht nur der Pazifismus, sondern auch jeder vernünftige Militärexperte die Gefahr einer Eskalation entgegen. Im Zentrum steht dabei vor allem die Sorge um den Einsatz von Atomwaffen.

Der Philosoph Olaf Müller befürchtet etwa, dass Europa am Ende einer Kaskade von Eskalationen in Schutt und Asche liegen könnte. In seinem Essay «Pazifismus. Eine Verteidigung» plädiert er dafür, die Ukraine aufgrund nicht absehbarer apokalyptischer Folgen «militärisch im Stich zu lassen».

Aufgeben als kleineres Übel

Zwar nähme man damit in Kauf, dass das überfallene Land unter russische Herrschaft käme – und wir wissen heute leider, dass Putin und seine Gefolgsleute mit äusserster Härte regieren. Müller gesteht deshalb vorbehaltlos zu, dass sein Vorschlag falsch klingt, ja er sich damit sogar «schuldig mache». Die Fremdbestimmung durch ein anderes Land hält er aber für das kleinere Übel im Vergleich zu den Folgen, die eine weitere Zuspitzung des Konflikts haben könnte.

Seinen «pragmatischen Pazifismus» grenzt Müller dennoch scharf ab vom radikalen Gewaltverbot, wie es der Gesinnungspazifismus einfordert: Der Krieg der Alliierten gegen Nazi-Deutschland sei beispielsweise auch im Nachhinein das einzig Richtige gewesen. Im Ukraine-Krieg setze er jedoch auf die pazifistische Karte, unter anderem aus Sorge um einen kriegerischen Flächenbrand.

Schutz der Menschenrechte

Wilfried Hinsch, ebenfalls Philosoph, hält Müllers Schluss für falsch. Nicht nur, dass er die Bedrohungslage anders einschätzt. Seinen Pazifismus, den auch er als «pragmatisch» bezeichnet, richtet er am Schutz der Menschenrechte aus.

Eine internationale Ordnung, die auf dem Schutz der Menschenrechte basiere, sei ein Hohn, wenn wir nicht bereit seien, ebendiese Ordnung notfalls auch mit Gewalt zu verteidigen. Gerade wenn wir das Recht der Ukrainer auf Selbstbestimmung, Sicherheit und Schutz vor Gewalt ernst nehmen, dürfen wir nicht tatenlos zusehen.

Mann mit grauen Haaren.
Legende: Der Philosoph Wilfried Hinsch richtet seinen pragmatischen Pazifismus an den Menschenrechten aus – diese müssten zur Not auch mit Gewalt verteidigt werden. Universität Köln

Für Hinsch stellt sich deshalb nicht allein die Frage, ob wir unter solchen Umständen eingreifen dürfen , sondern unter welchen Umständen wir eingreifen müssen .

Der gerechte Krieg

Auch Hinsch ist allerdings der Ansicht, kriegerische Interventionen bedürften stets einer Rechtfertigung. Bis heute wird in diesem Zusammenhang auf die «Theorie des gerechten Krieges» zurückgegriffen, deren Wurzeln bis in die Antike reichen und die vor allem von Thomas von Aquin, einem Philosophen des Mittelalters, ausgearbeitet wurde.

Neben einem «gerechten Grund» oder einem gerechtfertigten Anlass zur Kriegsführung («ius ad bellum») muss auch die Kriegsführung («ius in bello») bestimmte Kriterien erfüllen, damit der Krieg als gerecht bezeichnet werden kann.

Mann auf einem Gemälde mit Glatze vor einem Kirchturm.
Legende: Viele Theoretiker beziehen sich bis heute auf die «Theorie des gerechten Krieges» nach Thomas von Aquin. Wikimedia/Carlo Crivelli/National Gallery London

Weil die Kriterien des gerechten Krieges so anspruchsvoll sind, dass sie ein militärisches Eingreifen nur äusserst selten gerechtfertigt erscheinen lassen, wird sogar diese Theorie manchmal als eine Spielart des Pazifismus vorgestellt.

Die Verrohung verhindern

Pazifistinnen und Pazifisten argumentieren aber nicht nur mit der Bedrohung eines Flächenbrands, den niemand mehr kontrollieren könnte. Sie bringen auch die weiteren und langfristigen Folgen in die Abwägung ein: Flüchtlingsströme, zerstörte Infrastruktur, vermintes Gelände, Kriegstraumata, die sich über Generationen hinweg weitervererben und einen Nährboden für neue Konflikte abgeben.

Der pazifistische Einsatz bestand immer schon darin, das Kriegsgeschehen nicht als sauberes Geschäft schönzureden – als liessen sich mit «smart weapons» und Präzisionsraketen Freiheit und Frieden fein säuberlich herbeibomben.

Krieg ist immer brutal und barbarisch, und wenn die Waffen erst einmal sprechen, verrohen die Menschen erst recht. Pazifisten setzen deshalb alles daran, Aufrüstung und Militarisierung einer Gesellschaft zu verhindern.

Gegen Krieg in der Kaiserzeit

Das war auch das Anliegen der österreichischen Pazifistin Bertha von Suttner, die 1905 als erste Frau mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet wurde. Sie setzt sich vehement gegen den «Bellizismus» der Kaiserzeit ein, der Kriegsführung und stehende Heere nicht nur als unabdingbar ansah, sondern den Krieg auch moralisch überhöhte.

Von Suttner warnte eindringlich vor einer zunehmenden Militarisierung der Gesellschaft, die den Appetit auf kriegerische Auseinandersetzungen erst recht wecken würde.

Frau mit Hut auf einem österreichischen Schilling-Schein.
Legende: Die österreichische Pazifistin und Friedesnobelpreisträgerin Berta von Suttner, hier auf einem alten 1000-Schilling-Schein, warnte vor einer Militarisierung der Gesellschaft. IMAGO / Rudolf Gigler

Friedenssicherung ist Daueraufgabe

Es sind diese gesellschaftspolitischen Forderungen und grundlegenden Überlegungen zum Krieg, die den Pazifismus auch heute noch dringlich erscheinen lassen: Als Bemühen, die Verhältnisse in guten Zeiten zu ordnen und sich um Abrüstung und nachhaltige Friedenssicherung zu kümmern.

Immanuel Kant hat 1795 in seiner Schrift «Zum ewigen Frieden» darauf hingewiesen, dass die Friedenssicherung gerade in ruhigen Zeiten als stete Aufgabe voranzutreiben und als Ideal politischen Handelns hochzuhalten sei. Soll das Ideal eines ewigen Friedens mehr sein als ein «süsser Philosophentraum» müsse der Friede stets von Neuem «gestiftet werden», wie Kant schreibt – eine nie enden wollende politische Aufgabe.

Denn ebenso wenig wie Thomas Hobbes glaubte Immanuel Kant, dass der Mensch von Natur aus gut sei. Mit der Möglichkeit des Krieges gilt es deshalb stets zu rechnen.

Handel allein reicht nicht

Nimmt man Kant und seine Nachfolgenden ernst, entsteht jeder Krieg aus einem schlecht gepflegten Frieden. Seit dem Einfall der russischen Truppen in die Ukraine müssen selbst Realisten einsehen, dass Handelsbeziehungen als Friedenssicherung nicht ausgereicht haben und der Frieden in dieser Region insbesondere seit der russischen Annexion der Krim schlecht gepflegt wurde.

Ein Philosoph auf einem alten Gemälde.
Legende: Der Philosoph Immanuel Kant sah die Friedenssicherung als stete politische Aufgabe. IMAGO / Gemini Collection

Man bediente sich grosszügig am russischen Gas, machte Geschäfte mit russischen Devisen und feierte mit viel Pomp Olympische Spiele in Sotschi. Pazifistinnen und Pazifisten fordern demgegenüber, gefährliche Diktatoren so weit zu isolieren, dass ihnen Mut und Mittel abhandenkommen, um andere ruchlos zu überfallen.

Eine alte lateinische Redewendung, die sich schon bei Platon angelegt findet, besagt: «Si vis pacem para bellum», auf Deutsch: «Wenn Du den Frieden willst, bereite den Krieg vor.» In pazifistischen Kreisen kursiert der Alternativsatz: «Wenn Du den Frieden willst, bereite den Frieden vor.»

Zum Weiterlesen

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Olaf Müller: «Pazifismus. Eine Verteidigung». Reclam, 2022.

Wilfried Hinsch: «Die Moral des Krieges. Für einen aufgeklärten Pazifismus». Piper Verlag, 2017.

SRF 1, Sternstunde Philosophie, 02.04.2023, 11:00 Uhr

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